Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich am Mittwoch mit einem eindringlichen Appell an die palästinensische Gemeinschaft in Deutschland gewandt. "Sie alle sollen Raum haben, um Ihren Schmerz und Ihre Verzweiflung über die zivilen Opfer in Gaza zu zeigen, mit anderen zu teilen", sagte Steinmeier bei einer Veranstaltung im Berliner Schloss Bellevue. Das Recht, dies öffentlich und friedlich zu tun, sei von der Verfassung garantiert und stehe nicht infrage. Es dürfe auch "keinen antimuslimischen Rassismus und auch keinen Generalverdacht gegen Muslime geben".
Terrorismus, Volksverhetzung und der Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel seien jedoch nicht Teil dieser Verfassungsgarantie, sagte der Bundespräsident. Er "erwarte, dass wir gemeinsam dagegenhalten". Die Hamas spreche nicht für die Palästinenser, "im Gegenteil: Sie werden selbst zu Opfern des Hamas-Terrors". Er bitte deshalb alle Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln in Deutschland: "Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren! Sprechen Sie für sich selbst! Erteilen Sie dem Terror eine klare Absage!"
"Bloße Lippenbekenntnisse reichen nicht", sagt Steinmeier
Er verstehe, dass auch in Deutschland viele Menschen um Angehörige und Freunde im Nahen Osten fürchten, dass sie mitleiden mit den Menschen auf der einen oder auf der anderen Seite, sagte Steinmeier. Man könne die innere Zerrissenheit vieler, die auf die Straße gehen, und die scheinbar unüberbrückbaren Differenzen zwischen einzelnen Gruppen spüren. Die große Aufgabe, vor der man jetzt stehe, sei deshalb, "dass wir auch in Zukunft friedlich zusammenleben können".
"Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund, in dem Menschen mit ganz unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Erfahrungen, Religionen zusammenleben", sagte der Bundespräsident. In so einem Land habe gesellschaftlicher Friede Voraussetzungen. Friedliche Proteste, Solidarität, Mitgefühl, all das sei legitim und Ausdruck verfassungsrechtlich geschützter Freiheit. Aber die Freiheit habe dort ihre Grenzen, wo sie in Gewalt und Hass umschlage. Antisemitische Volksverhetzung, Angriffe auf Synagogen, das Verbrennen israelischer Flaggen seien keine Wahrnehmung von Freiheit, sie müssten strikt verfolgt und bestraft werden. Wer in Deutschland lebe, müsse die Regeln für ein friedliches Zusammenleben respektieren. Jüdisches Leben zu schützen, sei nicht nur Staatsaufgabe, sondern Bürgerpflicht - das gelte für alle, die hier leben.
"Ich bin überzeugt, wir müssen diesen Anspruch deutlicher formulieren als bisher", sagte Steinmeier. "Bloße Lippenbekenntnisse reichen nicht in dieser Zeit des Terrors, des Hasses." Es sei unerträglich, dass sich Juden 85 Jahre nach den Pogromen des 9. November 1938 in Deutschland nicht sicher fühlten, "dass sie Angst haben, ihre Kinder in die Schule zu schicken, dass Hausfassaden mit dem Davidstern beschmiert werden".
Scholz wird auf der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht eine Rede halten
Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte sich bereits vor einer Woche mit einem Appell zu Wort gemeldet. In einem bei X verbreiteten Video hatte er unter anderem gesagt, Antisemitismus dürfe in keiner Gestalt toleriert werden, "das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort". Die muslimischen Verbände forderte Habeck auf, sich "klipp und klar von Antisemitismus zu distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen".
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An diesem Donnerstag will Bundeskanzler Olaf Scholz an der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Pogromnacht in Berlin teilnehmen und eine Rede halten. Nach dem Video-Appell Habecks hatte es Kritik an Steinmeier und Scholz gegeben, dass sie nicht in vergleichbar eindringlicher Weise auftreten würden. Dies scheinen sie nun nachzuholen.