Der Kanzler schreitet mit ernster Miene an der Glaskuppel des Reichstags vorbei, rüber zum Saal der FDP-Fraktion, in seinem Rücken ein Tross an Kameraleuten, neben ihm Bodyguards. Im Gewusel übersieht er zunächst Fraktionschef Christian Dürr im Eingangsbereich, der läuft ihm hinterher und begrüßt ihn dann doch noch. Es gibt freundlichen, aber etwas schlappen Applaus für Olaf Scholz. Eine, die jedoch grimmig beim Anblick des Kanzlers dreinschaut, ist Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
Sie muss sich gerade von der SPD einiges anhören: dass sie als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses 105 Personen zugelassen hat bei der geheimen Sondersitzung zum russischen Lauschangriff auf vier Bundeswehr-Offiziere, in der es um Details einer möglichen Lieferung von Taurus -Marschflugkörpern an die Ukraine ging. Aus dieser Sitzung wurden als geheim eingestufte Informationen von Generalinspekteur Carsten Breuer an das Portal T-Online durchgestochen. In einer laut Teilnehmern verzerrten Lesart, etwa, dass die ganze Zieldatenprogrammierung komplex sei und wichtige technische Komponenten der Bundeswehr fehlen würden, wenn man sie an die Ukraine abgäbe. Das könne dann ein Risiko für die eigene Verteidigungsfähigkeit und mithin die nationale Sicherheit sein.
Da dies eindeutig den Kurs des Kanzlers stützt, der Taurus-Lieferungen ablehnt, vermuten einige Verteidigungspolitiker den Geheimnisverrat bei der SPD - weshalb von dieser Seite wiederum nun Strack-Zimmermann und die 105 Teilnehmer zum großen Thema gemacht würden. Und so ist der seltene Besuch des Kanzlers bei den Liberalen im Bundestag auch ein Signal, dass die Ampel mal wieder instabil ist und heftig über den Ukraine-Kurs streitet.
Man wolle mit dem Regierungschef "ins Gespräch kommen", hieß es aus der FDP
FDP-Fraktionschef Dürr hatte zuvor gesagt, man wolle mit dem Regierungschef "ins Gespräch kommen" - und das gelingt, ohne offene Abrechnung, wie zu hören ist. Aber als die FDP-Abgeordneten später hinauseilen in den Feierabend, sind sie ungewohnt wortkarg, wie ein Maulkorb wirkt es - man versucht mal wieder, die Reihen zu schließen. Scholz bleibt sich drinnen treu und versucht sachlich zu beruhigen. Alle Politikbereiche werden besprochen, ohne Angriffe, "menschlich ordentlich" sei das gelaufen, sagt ein Teilnehmer, als der Kanzler nach rund zwei Stunden und mit Applaus verabschiedet wird. Ein anderer bemerkt, es sei freundlich, gar humorvoll zugegangen, neben viel Übereinstimmung seien aber auch Differenzen geblieben.
Es ist ein typischer Scholz-Auftritt, hinter verschlossenen Türen kann er durchaus überzeugen; ihm kommt zudem zupass, dass er vor dem Auftritt bei der FDP eine Rede hielt, die hier viele goutiert haben. Er betonte bei der Hayek-Gesellschaft, dass die erneuerbaren Energien sich mehr am Markt behaupten, mit weniger Förderung auskommen müssten. "Es kann nicht sein, dass ein zentraler Wirtschaftszweig wie die Energieerzeugung, der demnächst einhundert Prozent erneuerbar sein wird, subventioniert wird", sagte Scholz da. Es sei absolut richtig gewesen, dass er sich einem subventionierten Industriestrompreis von sechs Cents pro Kilowattstunde widersetzt habe. Diesen hatten SPD und Grüne gefordert. "Heute bewegen sich die Strompreise am Spotmarkt bereits wieder in dieser Größenordnung, die Terminmärkte rechnen mit einem weiteren Absinken", sagte Scholz.
Drinnen bei der FDP versucht er auch nicht, die immer lauteren Forderungen aus seiner eigenen Partei nach einer umfassenden Reform der Schuldenbremse durchzusetzen, die neue finanzielle Spielräume eröffnen würde. Die Ampelkoalition sucht derzeit nach Wegen, doch noch einmal einen Befreiungsschlag zu schaffen - aber es fehlt das Geld für ein Konjunkturprogramm. Der nächste Großstreit droht beim Haushalt 2025, Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner pocht auf weitere Milliardeneinsparungen.
"Taurus"-Leak im Bundestag:105 Leute und ein Geheimnisverrat
Aus dem Verteidigungsausschuss dringen geheime Details zu "Taurus"-Marschflugkörpern an die Öffentlichkeit. Die Vorsitzende und die Bundestagspräsidentin machen sich gegenseitig Vorwürfe. Die Gründe haben nicht unbedingt etwas mit der Sache zu tun.
50 von 91 FDP-Abgeordneten stimmten nur aus Koalitionsräson gegen die "Taurus"-Lieferung
Und der größte Dissens bleibt - den kann auch der Kanzlerauftritt beim Koalitionspartner nicht übertünchen. Vergangene Woche, in der Taurus-Debatte im Bundestag, wurde deutlich, wie groß die Differenzen zwischen Scholz und seiner SPD auf der einen Seite und FDP und Grünen auf der anderen Seite sind. SPD-Fraktionschef Mützenich fragte sogar, ob nicht über ein Einfrieren des Krieges gesprochen werden müsse, was Grüne wie Liberale strikt ablehnen. Immerhin 50 von 91 FDP-Abgeordneten haben im Bundestag persönliche Erklärungen abgegeben, dass sie für eine Taurus-Lieferung seien, aber sich wegen der Koalitionsräson dem Nein des Kanzlers beugen würden - Strack-Zimmermann und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki haben derweil für den Unions-Antrag zu einer Lieferung gestimmt.
Bevor Scholz in der ersten Reihe der FDP-Fraktion neben Fraktionschef Christian Dürr Platz genommen hat, hatte Rolf Mützenich erneut in Richtung Strack-Zimmermann ausgeteilt. Sie, Strack-Zimmermann, verantworte ja wirklich einen überschaubaren, kleinen Bereich und habe es "auch dieses Mal nicht geschafft, eine geheime Sitzung so geheim zu halten, wie es erforderlich ist". Und dann sei da auch noch ein Brief, den sie an die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) zu dem möglichen Geheimnisverrat in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses vom 11. März geschrieben habe. Der sei der "interessierten Öffentlichkeit" zugänglich gemacht worden, bevor er bei der Bundestagspräsidentin eingetroffen sei.
"Ich weiß ja nicht, wie die Postwege von Frau Strack-Zimmermann sind", sagte Mützenich, "aber vielleicht gibt sie uns in Zukunft Aufklärung darüber, solange sie noch hier ist." Die streitbare Vorkämpferin für eine umfassende Ukraine-Unterstützung ist zur unverhohlenen Freude vieler in der Kanzlerpartei Spitzenkandidatin der FDP für die Europawahl im Juni - und wird danach nach Brüssel wechseln. Auch Scholz dürfte sie im Bundestag eher nicht vermissen.