Afghanistan:Zwischen Hoffnung und Todesangst

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Hunderte Menschen drängen sich am 26. August an einem der Kontrollpunkte nahe dem Flughafen von Kabul, manche wedeln mit Dokumenten, um durchgelassen zu werden. (Foto: Wali Sabawoon/AP)

Tausende Menschen in Kabul ignorierten Warnungen vor einem Terroranschlag am Flughafen. Sie wollen unbedingt auf eine der letzten Maschinen, die das Land noch verlassen.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Die Hoffnung auf den rettenden Flug ist stärker als die Todesangst. Obwohl die USA, Großbritannien und Australien in der Nacht zum Donnerstag vor einer akuten Bedrohung durch Selbstmordattentäter der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) rund um den Hamid Karzai International Airport von Kabul warnten, drängten sich dort am folgenden Morgen noch mehr Menschen als ohnehin schon in den vergangenen Tagen. Sie stünden "so eng aneinander wie Ziegel einer Mauer", sagte ein Augenzeuge, der sich etwa 200 Meter von einem Zugangstor im Osten des Geländes aufhielt, der Nachrichtenagentur dpa. Man komme keinen Meter mehr weit.

Die USA hatten ihre Bürger zuvor aufgefordert, die Bereiche um die Tore im Osten und Norden des Flughafens sofort zu verlassen. Der britische Verteidigungsstaatssekretär James Heappey sprach von "sehr, sehr glaubwürdigen Berichten über eine unmittelbar bevorstehende Attacke", die viele Menschenleben kosten könne.

Am frühen Abend dann trat die Befürchtung ein. Das Pentagon bestätigte, es habe zwei Explosionen außerhalb des Flughafengeländes gegeben. Der IS-Ableger in Afghanistan, der sich selbst Provinz Khorasan nennt, hatte in Kabul bereits wiederholt blutige Anschläge auf zivile Ziele mit Dutzenden Todesopfern verübt und selbst vor Angriffen auf Schulen nicht zurückgeschreckt. Am späten Abend machte die US-Regierung den IS für die Attacke verantwortlich. Und auch diesmal sind vor allem afghanische Zivilisten die Opfern.

Zwar bestätigte das Pentagon am Abend, dass zwölf US-Soldaten getötet worden seien. Die Selbstmordattentäter rissen aber auch mindestens 60 Afghanen in den Tod, wie die BBC unter Berufung auf afghanische Gesundheitsbehörden meldete. Mindestens 140 Menschen wurden verletzt. Die Evakuierungsmission endet in einem angekündigten Desaster.

Die zugespitzte Bedrohungslage hatte zuvor dazu geführt, dass geplante Flüge verschoben werden mussten und die meisten Nato-Staaten ihre Rettungsoperation beendeten. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) teilte am Abend mit, dass alle deutschen Soldaten, Polizisten und Diplomaten Kabul verlassen hätten. "Bis zum letzten möglichen Moment haben unsere Kräfte vor Ort versucht und auch dafür gesorgt, dass wir so viele Menschen wie möglich außer Landes bringen konnten", sagte sie.

Seit Beginn der Luftbrücke am 16. August seien von der Bundeswehr insgesamt 5347 Personen aus mindestens 45 Nationen ausgeflogen worden, unter ihnen etwa 500 Deutsche und mehr als 4000 Afghanen. "Meine Gedanken sind jetzt vor allen Dingen bei denjenigen, die nach unserem letzten Flug aus Kabul heraus sich noch vor Ort in Kabul und in Afghanistan befinden", sagte die Ministerin. "Für sie ist das Ende der Luftbrücke der Moment größter Sorge. Für sie bleiben wir auch nach Ende der militärischen Evakuierungsmission in der Verantwortung", versicherte sie.

Belgien, Dänemark und Kanada zogen ebenfalls ab, in Polens Hauptstadt Warschau traf am Donnerstagvormittag das letzte Flugzeug mit Geretteten ein. Auch die Niederlande stellten die Flüge ein. "Dies ist ein schmerzhafter Moment", erklärte die Regierung in einem Brief an das Parlament. "Die Niederlande sind heute durch die Vereinigten Staaten informiert worden, dass sie abziehen müssen", heißt es darin. Trotz aller Anstrengungen würden nun Menschen in Afghanistan zurückbleiben, die ausgeflogen werden sollten.

Frankreichs Ministerpräsident Jean Castex kündigte an, sein Land werde die Evakuierungen Freitagnachmittag stoppen. Der britische Premierminister Boris Johnson sagte nach einer Sitzung des Krisenkabinetts in London, man werde trotz des Anschlags versuchen, die Evakuierungsmission noch fortzusetzen.

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Russlands Botschaft in Kabul bleibt geöffnet

Russland hatte auf Anordnung von Präsident Wladimir Putin am Mittwoch noch vier Militärtransporter nach Kabul geschickt. Laut der Nachrichtenagentur Tass brachten sie 360 russische Staatsangehörige sowie etwa 140 weitere Menschen aus zentralasiatischen und osteuropäischen Staaten außer Landes. Etwa 100 Russen hätten entschieden, im Land zu bleiben. Der Kreml hat anders als die westlichen Staaten seine Botschaft in Kabul nicht geschlossen und die Machtübernahme durch die Taliban begrüßt, ohne diese jedoch anzuerkennen. Offiziell stuft Moskau die islamistischen Extremisten als Terrororganisation ein.

Laut dem Weißen Haus wurden in den 24 Stunden bis Donnerstagmorgen um drei Uhr von der westlichen Militärkoalition weitere 13 400 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen, deutlich weniger als in der gleichen Zeitspanne tags zuvor - da waren es noch mehr als 20 000 gewesen. Offenbar ließen die US-Truppen deutlich weniger Menschen durch die Kontrollpunkte auf den Flughafen - aus Sorge, dass Terroristen auf das Gelände gelangen oder sich sogar in eines der Flugzeuge einschleichen könnten.

Obwohl sich nach US-Regierungsangaben noch mindestens 1000 US-Bürger in Afghanistan aufhalten, hält Präsident Joe Biden an dem Plan fest, bis 31. August alle Truppen vom Flughafen Kabul abzuziehen. Mindestens 150 Amerikaner müssten noch in den verbleibenden 36 Stunden für die Rettungsaktion zum Flughafen gebracht werden, berichtete der Nachrichtensender CNN am Donnerstagmorgen. Bei etwa 1000 Amerikanern sei nicht klar, ob sie das Land verlassen wollten. Überdies müssten noch 1800 afghanische Ortskräfte der US-Botschaft in Kabul und anderer Vertretungen zum Flughafen eskortiert werden.

Die verbleibende Zeit benötigt das US-Militär, um die mehr als 5000 eigenen Soldaten sowie etwa 600 Angehörige der kollabierten afghanischen Sicherheitskräfte samt deren Ausrüstung und Material außer Landes zu bringen. Die Afghanen hatten den westlichen Truppen geholfen, das Flughafengelände zu sichern.

In den Fokus rückt damit die Frage, ob der Flughafen in Kabul nach dem Rückzug der internationalen Truppen weiter betrieben werden kann. Diese Aufgabe hätte nach der Planung vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung das türkische Militär von den Amerikanern übernehmen sollen, die dort den gesamten Flugverkehr mit eigener Ausrüstung abwickeln. Die Soldaten des Nato-Mitglieds Türkei begannen am Mittwoch mit dem Abzug, die letzten sollten am Donnerstag in Ankara eintreffen.

Der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, İbrahim Kalın, sagte jedoch, auch "nachdem unsere Soldaten abgezogen sind, können wir den Betrieb des Flughafens fortsetzen". Die Gespräche darüber liefen weiter. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte der Süddeutschen Zeitung es sei "im Interesse aller Seiten und auch jeder afghanischen Regierung, einen funktionierenden und sicheren Flughafen für zivilen Verkehr und Hilfsflüge zu haben".

Die Taliban sprechen von der Möglichkeit kommerzieller Flüge

Wie dies technisch möglich sein soll und in welchem Zeitrahmen, ließ Stoltenberg unbeantwortet. Nach Angaben aus deutschen Sicherheitskreisen ist ein ziviler Betrieb auf absehbare Zeit nicht möglich. Die Taliban hatten Angebote der Türkei zunächst mehrmals abgelehnt, sprechen inzwischen aber selbst von der Möglichkeit kommerzieller Flüge und baten Ankara um technische Unterstützung. Das Welternährungsprogramm will eine humanitäre Luftbrücke einrichten, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern versorgen zu können.

Der deutsche Diplomat Markus Potzel erhielt vom stellvertretenden Leiter des politischen Büros der Taliban in der katarischen Hauptstadt Doha, Sher Mohammad Abbas Stanekzai, die Zusage, ausreisewillige Afghanen könnten das Land auch nach dem 31. August verlassen, wenn sie über die nötigen Dokumente und Visa verfügten. Der Abzug der internationalen Truppen ebne den Weg für einen zivilen Betrieb des Flughafens Kabul, teilte Taliban-Sprecher Suhail Schahin nach dem Gespräch per Twitter mit.

Die Taliban kündigten zudem an, der Flughafen in Afghanistans drittgrößter Stadt Kandahar nehme nach der Schließung am 15. August seinen Betrieb langsam wieder auf. Ein zweiter internationaler Flug aus der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe sei dort gelandet. Westliche Staaten drängen die Taliban, schutzbedürftigen Afghanen sicheres Geleit für Ausreisen auf dem Landweg zu garantieren.

An der Grenze zu Pakistan haben sich bereits Tausende Menschen gesammelt. Beide Grenzübergänge sind aktuell offen, allerdings brauchen Afghanen Visa für das Nachbarland. Alleine am Übergang Spin Boldak reisten aber 10 000 Afghanen pro Tag ein, teilte Pakistans Grenzpolizei mit - an normalen Tagen seien es etwa 4000.

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