Dokumentarfilm:Ungeplante Langzeitstudie

Lesezeit: 3 min

"Jazzfieber", ein Dokumentarfilm von Reinhard Kungel, zeigt unter anderem die Swing-Legenden Hugo Strasser, Paul Kuhn und Max Greger bei einem letzten Tänzchen. (Foto: rk-film/oh)

Der Münchner Filmemacher Reinhard Kungel hat elf Jahre lang mehrere Musiker-Generationen begleitet und daraus mit "Jazzfieber" eine deutsche Jazzgeschichte destilliert.

Von Oliver Hochkeppel

Die These, mit der der Film beworben wird, ist steil: "Jazz ist hip! Ob im Club oder im Tanzpalast - swingende Rhythmen sind en vogue, auch und gerade unter jungen Menschen!", startet der Pressetext zu "Jazzfieber - The Story of German Jazz". Wer viel im Jazz unterwegs ist, mag das bezweifeln. Beginnend damit, dass gerade der Swing (mitsamt seinem Publikum) zu den leider eher aussterbenden Spielarten gehört. Und dass man den Eindruck haben kann, dass die jungen Menschen, die sich für Jazz interessieren, ihn dann auch gleich spielen. Auf der Bühne ist der Jazz nämlich zumeist viel jünger als unten im Saal.

Aber gut, aus der Musiker-Perspektive erzählt der Dokumentarfilm des Münchner Filmemachers Reinhard Kungel und des Produzenten Andreas Heinrich seine "Geschichte des deutschen Jazz" ja auch nahezu ausschließlich. Und zwar aus der mehrerer Generationen. Schon zu Beginn verschränkt er, was für jeden Jazzer zu allen Zeiten zum Job gehört: die Fahrt zum Auftritt. Man sieht die Max Greger Bigband in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren im eigenen, groß mit dem Bandnamen beschrifteten Tour-Bus; dann den aktuellen Jazz-Nachwuchs rund um die Münchner Sängerin Alma Naidu und den Trompeter Jakob Bänsch mit einem vermutlich durch ein Förderprogramm zur Verfügung stehenden Transporter, auf dem "Vans for Bands" steht; und schließlich den Jazzprofessor Tizian Jost, wie er sich mit der jungen Sängerin Hannah Weiss für sein "Feindsender"-Projekt über den Jazz im "Dritten Reich" im eigenen Vehikel auf den Weg macht.

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Hier wie später gewinnt der Film seine stärksten Momente daraus, dass er diese so ganz unterschiedlichen Musikergenerationen sozusagen übereinanderlegt. Denn nicht nur im Schneideraum wurde thematisch zusammengeführt, Kungel lässt die Jungen im Tour-Van auch das Material der Alten auf dem Tablett anschauen und kommentieren. Es ist dann schon berührend, wie die jungen Jazz-Akademiker auf Coco Schumanns Erzählungen von Theresienstadt und Auschwitz reagieren.

Diese größte Tugend des Films ist aus der Not geboren. Denn begonnen hat Reinhard Kungel mit seinem Projekt bereits im Jahr 2011. Als "Entering Germany: Wie der Jazz nach Deutschland kam", annoncierte er es Ende 2015, für 2017 war der Kinostart geplant. Doch die leider üblichen Probleme mit Finanzierung, Produktion, Gremien und Verleih verhinderten dies. Und dann kam Corona. Als es weitergehen konnte, waren Kungels Interviewpartner und Gewährsleute für das ursprüngliche Thema, also die Frühzeit des deutschen Jazz, inzwischen fast alle gestorben, von den "Swing-Legenden" Max Greger, Hugo Strasser und Paul Kuhn über den "Ghetto-Swinger" Coco Schuhmann, den Klarinettisten Rolf Kühn oder den Komponisten Peter Thomas bis zum "Mr. Jazz der DDR" Karlheinz Drechsel. Damit es nicht zu morbide wird, drehte Kungel also mit jungen Jazzern weiter und streckte das Thema bis in die Gegenwart. Und so hat sein Film nun am 7. September endlich Premiere in ausgewählten Filmtheatern.

Sieben Kapitel hat der Film, von "Woher kommt der Jazz?" und "Jazz im III. Reich" über "Was ist Jazz?" oder "Jazz im Wandel der Zeit" bis zu "Hat der Jazz eine Zukunft?". Jedes für sich lässt sich in 90 Minuten nicht erschöpfend beleuchten, und so geht es oft sehr kursorisch über die überdies nicht sauber abgegrenzten Themen hinweg. Zu Goebbels Propaganda-Band Charlie and his Orchestra etwa, ein zentrales Phänomen des Jazz im "Dritten Reich" gibt es nur eine paar teilweise missverständliche Musikerstimmen, nicht einmal der Name wird genannt. Ebenso vage bleibt es bei der Gretchenfrage "Was ist Jazz?". Selbst oder gerade, wenn ein Klaus Doldinger feststellt, dass der Kern die "Freiheit des Ausdrucks ist, die mit Worten nicht möglich wäre." Oder wenn Hugo Strasser meint, Jazz sei "auch ein Lebensgefühl".

Logischerweise schwappt der Film mit seinen vielen Protagonisten gerne ins Anekdotische. Andererseits hat es natürlich einen besonderen Charme, den deutschen Jazz und seine Geschichte einmal nur durch Musiker und ihre Musik vorgestellt zu bekommen, ohne die üblichen Experten, und ohne, dass sich der Filmemacher auf irgendeine Seite schlägt. Denn Kungel bleibt absolut neutral und enthält sich jedes Kommentares. Umso lustiger ist dann, wenn - Archivmaterial wird sparsam, aber punktgenau eingesetzt - eine hochkarätige Fernseh-Runde in den Siebzigerjahren über Freejazz diskutiert und ein noch sehr junger Siggi Loch konstatiert, er könne damit überhaupt nichts anfangen.

Rückt auch die junge Jazz-Generation ins Bild: Reinhard Kungel (ganz rechts) mit Niklas Roever, Mareike Wiening und Jakob Bänsch (von links) (Foto: rk-film)

Bleibt als großer Pluspunkt, dass man hier noch einmal den Pionieren der deutschen Jazzgeschichte und ihrem Vermächtnis begegnet - oft sind es wohl die letzten Aufnahmen von ihnen, die Kungel da gemacht hat. Und ganz am Schluss ist es noch einmal die Konfrontation der Generationen, die einen bei der abschließenden Frage, ob der Jazz eine Zukunft hat, versöhnt. Während etwa ein Max Greger - und nicht als einziger - resignativ mit Nein antwortet ("Schade, aber es ist vorbei"), kontert Schlagzeugerin Mareike Wiening mit der Einschätzung, die den aktuellen Stand auf den Punkt bringt: "Jazz ist doch heute alles, umfasst jede Art von Musik. Und Musik hat immer eine Zukunft."

"Jazzfieber. The Story of German Jazz", Do., 7. Sept., Studio Isabella, Neureutherstr. 29, www.jazz2germany.de

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