Es geht auch um Gewohnheiten. Denn die Jazzwahrnehmung ist ein Tummelplatz halbverfestigter Mythen. Man hört, entdeckt Referenzen, und schon klappt das Spaltenraster der Erkenntnisse und Erzählungen auf, die mit den identifizierten Personalstilen üblicherweise verknüpft sind. Beispiel Jakob Bänsch. Sein Debütalbum "Opening" mit stellenweise um zwei Streicherinnen und Sängerin erweitertem Jazzquartett hat eine Prise Blue-Note-Sechziger und etwas neotraditionalistische Neunziger im Klangbild. Der Sound des Trompeters und Bandleaders nimmt Anleihen bei Donald Byrd, die Phrasierungen nähern sich manchmal erfreulich unverkrampft der Eloquenz von Freddie Hubbard.
Die Band wiederum schafft es mühelos, zwischen kammerjazziger Verhaltenheit und kräftig moderner, postboppender Gruppenenergie zu changieren. Damit könnte man das Deutungsportfolio schließen und das Album in die Kategorie "Gelungene Jazzpädagogik samt individuellem Stilwillen mit Tendenz zur posttraditionellen Individuation" einsortieren. Punkt und Tonträger abgehandelt.
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Aber das ist es nicht. "Opening" funktioniert auf überraschende Art auch außerhalb der Schemata. Denn der 20-jährige Trompeter aus profimusikalischem Elternhaus in Pforzheim, der zurzeit in Köln studiert und nach den ersten Auszeichnungen bei Jugend musiziert oder dem Solistenpreis beim Jungen Münchner Jazzpreis 2022 bereits erfolgreich im Wettbewerbs-Karussell mitfährt, wirkt nicht so, als wolle er sich mit der Historie messen. Erlebt man ihn auf der Bühne, strahlt er zu gleichen Teilen Schüchternheit und Selbstbewusstsein aus und fällt mit ungeheurem Ernst in die Musik, ohne dabei verkrampft zu erscheinen.
Bänsch ist dieser Jazz, den er spielt. Er hat den Sound von einst verinnerlicht, die Formensprachen der anderen sind Tools, nicht Messlatten, und das verhilft ihm zu dieser speziellen Leichtigkeit, die nicht viele Debüts von jungen Musikern haben. Nebenbei zieht er damit auch seine Band und die Gäste mit, die wiederum wie Pianist Niklas Roever oder Schlagzeuger Leo Asal sich ebenfalls souverän auf die Transformation des Vergangenen einlassen. Sie spielen eigene Kompositionen, die trotz der akademisch üblichen Klischees des gefordert Komplexen sich nicht im Intellektuellen verlieren.
"Opening" klingt daher zugänglich, aber nicht nach Zugeständnis. Und damit zur zweiten Deutungsschleife. Jakob Bänsch ist ein erstaunliches Debüt gelungen, musikalisch mitten in der Tradition des kunstvoll modernen Jazz und zugleich unabhängig von dessen gewohntem Mythenschwurbel. Vielleicht will er einfach erzählen. Vielleicht ist er auch schlicht sakrisch gut und höllisch begabt.
Jakob Bänsch: Opening (Jazzline/Broken Silence), Konzert: Jakob Bänsch Quartett, 28. Juni, 21 Uhr, Night Club des Bayerischen Hofs, www.bayerischerhof.de