Das Ende der Welt ist nicht zu erkennen. Kein Krater, keine Mauer, kein Stacheldraht unterbricht den langen Weg über das Gelände des Münchener Rennvereins (MRV). Man stapft einfach geradeaus durch Pfützen, in die es unentwegt weiterregnet, ohne zu merken, wann genau man die eine Welt verlässt und die andere, die düstere, verstörende, betritt. Kein Fremder verirrt sich hierher.
Die Vorderwelt kennen viele. Sie ist für Sonnenschein gemacht. Wenn an großen Renntagen das Wetter passt, strömen Zehntausende Münchner zur Galopprennbahn nach Riem. Dann ist es laut hier. Die drei Tribünenhäuser entlang der Strecke sind voller Menschen, Familien breiten ihre Picknickdecken aus.
Bauvorhaben:Bekommt München Wohnungen an der Galopprennbahn in Riem?
Der Münchener Rennverein verkauft seit Jahren Stück für Stück sein Gelände, um Verluste auszugleichen. Eine neue Idee könnte das Problem lösen - und den Mietmarkt entlasten.
Am Haupteingang steht ein Hochglanz-Übersichtsplan, er zeigt die neue Alm, in der seit drei Jahren Besucher verköstigt werden, den Parcours fürs Ponyreiten, den Kinderspielplatz im Schatten alter Bäume. Doch etwa dort, wo dieser Plan endet, endet auch die Welt, wie sie die Besucher der Rennbahn kennen. In der anderen, der Hinterwelt, arbeiten Menschen wie der Ire John Hillis.
Mit grüner Kappe, blauer Arbeitsjacke, die Füße in Gummistiefeln, steht er am Eingang seines Stalls. Bereit, einen Einblick zu geben. "John Hillis macht viel", sagt John Hillis, 52, lachend und mit breitem Akzent auf dem Weg nach innen. Was er meint: Es gibt eine Handvoll großer Stallgebäude hier auf der Anlage in Riem; seines sei noch eines der besseren.
Knapp 30 Pferde trainiert Hillis hier. Die Fassade links und rechts vom Eingangstor ist in den irischen Nationalfarben orange, weiß und grün bemalt, verziert mit Kleeblatt, Pferdelogo und der Aufschrift: "Hillis Racing". Auch drinnen, wo zwei Hengste aus ihren Boxen blicken, ein kleiner, gescheckter Hund zur Begrüßung heranwackelt und sich zwei Kätzchen balgen, bemüht Hillis sich um Sauberkeit. 365 Tage im Jahr sei er hier, "ab und zu hätte ich gern mal frei". Die Plastikfenster der großen Halle sind im Lauf der Jahrzehnte dunkelbraun angelaufen. Stockflecken an der Decke zeigen, dass das Dach undicht ist. Doch den Pferden geht es gut.
Die Besichtigungstour führt über eine Außentreppe in den ersten Stock, zu den Mitarbeiterwohnungen. Die erste Tür: ein heruntergekommenes Gemeinschaftsklo. Die zweite: ein leer stehendes Einzimmer-Appartement, wie überall ohne eigenes Bad, an der Decke eine altmodische Lampe. Als wäre in diesem Schattenreich die Zeit stehen geblieben.
Die Seiten der Rennkalender sind vergilbt
Der kahle Raum ist winzig, die Fenster undicht, der Betonboden hat Risse. Der Flur ist endlos, eng und düster. Durch die Fenster könnte man in den Stall blicken, doch die Scheiben sind dunkel bemalt oder abgeklebt, um nachts die Pferde nicht zu stören. Es ist schwer zu glauben, dass hier Menschen leben.
1989 kam Hillis hierher, ein erfolgreicher Jockey aus einem professionell geführten irischen Gestüt. Damals war der Münchner Flughafen noch in Riem. Die erste Nacht habe er im Haus von Trainer Wolfgang Figge verbracht. Dann sei er auf der Rennbahn angekommen mit seinen Koffern, die Außentreppe hoch gegangen, habe sein Kämmerchen inspiziert - und gefragt, wie er am schnellsten zurück zum Flughafen komme.
Hillis wohnte weitere neun Monate bei Figge, irgendwann lernte er seine Frau kennen und bezog mit ihr ein Haus in Dornach. Die Wohnungen sind in den darauffolgenden 28 Jahren weiter verfallen.
Kernstück der Vorderwelt, neben der Rennbahn mit dem dichten, perfekten Rasen, in deren Inneren ein Golfplatz mit zwei kleinen Teichen liegt, ist das malerische, denkmalgeschützte Sekretariatsgebäude, Baujahr 1897. Weiß getünchte Holzfassade, große Fenster mit grünen Rahmen, Efeu. Hier residiert Geschäftsführer Horst Lappe. "Mir wird oft gesagt: ,Du hast das schönste Büro Münchens'", erzählt er. Im Eck neben dem Schreibtisch steht eine Golftasche.
Hufe, Hüte, Hautevolee: So sieht es in Riem an sonnigen Tagen aus.
Die Schattenseite: vergilbte Fenster, ...
... Stockflecken an der bröckelnden Decke, ...
... bemooste Böden ...
... und verfallende Gebäude.
Der Anbau im gleichen Stil entstand hundert Jahre später. Grüne Polsterstühle stehen um einen Konferenztisch aus dunklem Holz, an den Wänden hängen alte Fotos und Zeichnungen von Rennpferden, an einer Seite ein niedriges Regal voller alter Bücher. Rennkalender aus dem 19. Jahrhundert. Wer wissen will, wer den Prix de la Ville de Havre 1889 gewann - auf diesen vergilbten Seiten wird er fündig.
49 Wohneinheiten sind auf die Stallgebäude verteilt, "nicht alle belegt, teilweise auch nicht bewohnbar", erzählt Lappe. 35 Mitarbeiter leben darin, die meisten Trainer wohnen außerhalb. Die Mieter hätten ihre Räume so gut es geht hergerichtet, "aber das ändert natürlich nichts daran, wenn die Heizung nicht funktioniert und die Isolierung fehlt". In Wintermonaten kämen schon mal Stromrechnungen von 18 000 Euro auf den Rennverein zu, weil die Bewohner elektrische Heizlüfter bräuchten. Die Heizanlage ist marode.
Vor einigen Tagen, erzählt Lappe, habe er einen Bauantrag unterschrieben. Der MRV will so schnell wie möglich ein zweigeschossiges Gebäude auf seinem Gelände errichten, in dem 32 Mitarbeiterwohnungen Platz finden. Spätestens im kommenden Sommer soll es bezugsfertig sein, bis dahin hofft er für die Mieter auf einen milden Winter. Das Elend soll ein Ende haben. Lappe rechnet mit einem niedrigen Millionenbetrag, genauere Zahlen gibt es noch nicht. "Wir haben ein traumhaftes Gelände im Zuschauerbereich. Aber die ganze Anlage soll wieder glänzen."
Auf dem hochglanzpolierten Konferenztisch liegt eine Luftaufnahme der Rennbahn, man sieht darauf all die riesigen Stallgebäude. "Bauliche Katastrophen mit fragwürdiger Statik", sagt Lappe. 140 Pferde sind in Riem untergebracht, früher seien es bis zu 350 gewesen. Allgemein gebe es weniger Rennpferde, der Mittelstand schwinde. "Früher hat der Installateur oder Metzgermeister noch zwei, drei Rennpferde gehabt."
Galopp:Der Mann mit dem Wow-Effekt
Beim Großen Dallmayr-Preis in Riem ist Lanfranco "Frankie" Dettori die allergrößte Attraktion. Mit einem gewagten Manöver wird der italienische Star-Jockey seinem Ruf gerecht und fügt seiner Vita einen weiteren Triumph hinzu
Doch auch die maroden Ställe tragen zu diesem Schwund bei. Auch sie sollen so bald wie möglich abgerissen und neu gebaut werden. Der Verein erhofft sich dadurch wieder mehr Tiere auf dem Klubgelände. "Wer sich heute noch Pferde leisten kann, will auch eine gepflegte Anlage, und keinen Stall, in dem es von der Decke tropft und Dachplatten herunterkrachen", argumentiert Lappe.
Der Geschäftsführer kennt auch die Hinterwelt. Gemeinsam mit Hausmeister Mustafa Türk ist er mitgekommen, um all die Mängel vorzuführen. Die Styroporplatten an der Decke der Ställe saugten sich immer wieder mit Wasser voll und krachten dann zu Boden, berichtet er. In Hillis' Stall sind sie gerade erneuert worden. In anderen, baugleichen, etwa der leer stehenden Hälfte des Stalls Nummer neun, klaffen riesige Löcher in der Decke, durch die es stetig in die Boxen tropft.
"Holz und Dachpappe", sagt Hausmeister Türk mit abschätzigem Blick zur gut zehn Meter hohen Decke. Viel zu hoch, um sie sauber zu halten. 100 000 Euro pro Jahr gebe der Rennverein allein für die ständigen Reparaturen aus, schätzt Lappe. Es wäre noch viel mehr, wenn das Team um Türk nicht die meisten Arbeiten selbst erledigen würde.
Auf dem Fußboden wächst Moos
Lappe deutet auf monströse Lüftungskanäle, die jeden Stall durchziehen. Diese Anlage hätten "sicher einen sechs-, wenn nicht siebenstelligen Betrag gekostet - und sind noch keinen Tag gelaufen". Weil sie Keime im ganzen Stall verbreiten. Hillis lässt seine Stalltore immer offen.
1972 sind all diese Gebäude entstanden, hastig für Olympia hingeworfen. "Vierzehn Tage vom Einreichen der Baugenehmigung bis zum Stempel", erzählt Lappe. Viel Geld sei damals verdient worden. Die Dächer steigen von der Mitte jedes Gebäudes zu den Längsseiten an, als hätte sie jemand falsch herum aufgesetzt.
Durch die Fenster der Wohnungen sieht man die riesige Trainingsbahn des Vereins. Auf dem gut 40 Hektar großen Gelände würde der MRV gerne Wohneinheiten errichten, vielleicht 2000 oder mehr. Durch deren Vermietung will er auf dem Gelände dauerhaft Einnahmen erwirtschaften und so seine Schulden abbauen. Noch ist die Fläche unbebaut. Weht der Wind von dieser Seite, bläst er durch Lüftungsöffnungen in der Außenwand die Heizungen aus.
Drinnen in einem der unbewohnbaren Zimmer, auf dessen Fußboden Moos wächst, klopft Lappe gegen die dünne Außenwand. Sie klingt wie Karton. Filmkulissen werden so gebaut, aus Holz und Pappe, mancherorts werden sie nach den Dreharbeiten stehengelassen, bis sie verrotten. Auch in Riem könnte man jederzeit einen Film drehen. Einen Gruselfilm. Doch in dieser Kulisse leben Menschen.
"Bayern passt besser zu einem Iren"
Er habe damals andere Angebote als Jockey gehabt, erzählt Hillis bei einem wärmenden Kaffee in seinem Büro. An der Decke laufen dünne Heizungsrohre entlang und enden in einem Loch in der Außenwand. Köln, Düsseldorf, Neuss, erinnert er sich. "Wäre ich Engländer, wäre ich nach Köln gegangen. Aber ich bin Ire. Familie, Kirche und eine Wirtschaft, das ist für uns wichtig." Er lacht. Dazu die Natur, die Nähe zu den Bergen: "Bayern passt besser zu einem Iren".
Manchmal, wenn er spät nachts von Rennen heimkommt, legt er sich für ein, zwei Stündchen auf ein Bett in seinem Büro, bis die Stallarbeit beginnt. Aber auf Dauer hier leben? Nie. Er leidet mit seinen acht Angestellten, die nicht viel verdienen, obwohl er vergleichsweise gut zahle; die um fünf Uhr morgens im Dunkeln mit der Arbeit beginnen, auch an verregneten, kühlen Tagen wie diesem. "Der letzte Winter war hart", erzählt er. Als wieder die Heizung ausfiel, habe er seine Leute mit zu sich nach Dornach genommen, damit sie mal warm duschen konnten.
Hillis bemüht sich, sein Team bei guter Laune zu halten, wenigstens die Arbeit solle Spaß machen. "Du musst die Pferde und diesen Sport lieben", sagt er, nur so ließen sich die Umstände ertragen. Durch Leidenschaft. Ein Winter noch, dann könnten seine Mitarbeiter hoffentlich in die neuen Unterkünfte ziehen. Ein Stück Grenzabbau zwischen den Riemer Welten.