Coming-of-Age-Drama:Die im Dunkeln sieht man doch

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Regisseur Jakob M. Erwa trägt Springerstiefel und enge Jeans, hat sich die Haare abrasiert und trägt zwei Ringe in der Nase. Die gemusterte Bomberjacke hat er bei den Dreharbeiten für die in München spielende Serie "Katakomben" getragen. (Foto: Stephan Rumpf)

Jakob M. Erwa zeichnet in der Streaming-Serie "Katakomben" ein düsteres Bild von München. Die Stadt habe "ein Talent fürs Wegschauen und Unsichtbarmachen".

Von Josef Grübl

Wie man unterirdisch vom Königsplatz zum Deutschen Museum kommt, weiß die junge Frau genau. Sie kennt sich aus in den Tiefen Münchens, weiß, wo sie hinabsteigen, entlanggehen und abbiegen muss. Fragt man Jakob M. Erwa, 39, nach diesem Weg, sieht die Sache ganz anders aus: "Oje, da muss ich passen", sagt der Regisseur der Serie "Katakomben", die seit dieser Woche beim deutschen Streamingdienst Joyn zu sehen ist. Er weiß zwar einiges über das Netzwerk aus Versorgungsgängen, Gewölben und Schächten, die die Münchner Innenstadt untertunneln, zurechtfinden würde er sich dort aber nie.

Muss er auch nicht, denn "Katakomben" ist kein Dokumentarfilm, sondern eine Coming-of-Age-Dramaserie. Darin lebt eine junge Frau mit anderen Obdachlosen im Untergrund - und kennt diesen sehr genau. Als Jugendliche die unterirdischen Anlagen des Hauptbahnhofs als Partylocation entdecken, bricht ein Feuer aus. Es gibt Tote und Verletzte, der Sohn der Stadtbaurätin kommt erst gar nicht mehr hoch aus der Tiefe. Die im Dunkeln sieht man bekanntlich nicht, dann aber wird doch recht viel aufgedeckt, eigentlich fast zu viel für sechs knallbunte Serienfolgen.

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Die Idee zu "Katakomben" hatte Florian Kamhuber von der Münchner Produktionsfirma Neuesuper, die mit Serien wie "Hindafing" oder "8 Tage" bekannt wurde. Ein Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung habe ihn inspiriert, sagt der Produzent; darin ging es um Drogensüchtige, die die unterirdischen Gänge unter dem Hauptbahnhof als Rückzugsort nutzten. Für ihn sei das ein Sinnbild für die Stadt: "Alles glänzt und es scheint allen gut zu gehen", sagt Kamhuber. "Wir haben in München ein Talent fürs Wegschauen und Unsichtbarmachen, wie es kaum eine andere deutsche Stadt hat."

Wie aber macht man aus einem sozialen Problem eine Hochglanzserie für ein streamingfreudiges Publikum?

Diese Frage bespricht man am besten mit dem Regisseur und Drehbuchautor. Als Treffpunkt hat Jakob M. Erwa den Hauptbahnhof vorgeschlagen, der gebürtige Österreicher ist am Abend zuvor aus Berlin angereist. Dort lebt er seit einigen Jahren, zum Filmregisseur ausgebildet wurde er jedoch an der Münchner Filmhochschule. Er trägt Springerstiefel und enge Jeans, hat sich die Haare abrasiert und trägt zwei Ringe in der Nase. Das mag etwas martialisch wirken, ist aber nur der erste Eindruck: Erwa lacht viel und hat eine offene Art, das lässt ihn auf Anhieb sympathisch erscheinen. Da er weiß, dass er fotografiert werden soll, hat er sich für seine Lieblingsjacke entschieden. "Die habe ich schon bei den Dreharbeiten ständig getragen", erzählt er und streicht über die Ärmel seiner gemusterten Bomberjacke.

Im Januar vor einem Jahr ging es los, zu Beginn des ersten Lockdowns im März musste der Dreh unterbrochen werden. "Zum Glück hatten wir die Massenszenen im Club und den Katastropheneinsatz da schon gedreht, später wäre das sehr schwierig geworden", sagt er. Erst im Sommer ging es weiter, da mussten die Darsteller so tun, als würden sie im Münchner Winter frieren.

Da der Hauptbahnhof immer noch eine Großbaustelle ist, schlägt er für die Fotos eine nahegelegene Tiefgarage vor: Erwa weiß genau, wie er herüberkommen will, macht Inszenierungsvorschläge. Mal setzt er die Kapuze seines Hoodies auf, dabei schaut er streng. Dann nimmt er die Kapuze ab und lächelt.

"Da unten ist offiziell wenig zugänglich", sagt er, "wir haben für die meisten originalen Gänge und Schächte auch keine Drehgenehmigung bekommen." Sowohl die Stadtverwaltung als auch die Deutsche Bahn würden das Stadtbild eben schön und sauber halten wollen, da nehme man es in Kauf, dass sich im Verborgenen eine Grauzone entwickle. Denn natürlich gibt es auch in München Obdachlose oder Drogensüchtige, man wolle das bloß nicht wahrhaben: "Da wird lieber weggesehen und Halblegales akzeptiert - aber bitte dort, wo man es nicht sieht." Die Katakomben seien eine Art Zwischenwelt, in der Realität jedoch würde seinem Wissen nach niemand dort dauerhaft leben.

Der Regisseur will sozial relevante Themen für die breite Masse erzählen; also reihen sich in seiner Serie ausgelassene Partybilder, die an Musikvideos erinnern, an harte und ungeschönte Szenen. "Ich möchte Unterhaltung mit Haltung machen", sagt er. Als musikalisches Leitmotiv verwendet er das wohl berühmteste aller proletarischen Kampflieder, seine Protagonisten stimmen mehrmals die "Internationale" an, mit einer kleinen Textänderung: Statt "Völker, hört die Signale" singen sie "Menschen, hört die Signale".

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Mittlerweile ist man weitergezogen in den Alten Botanischen Garten, wo sich an diesem kühlen Frühlingstag Menschen aufhalten, die ebenfalls nicht ganz zum gelackten Münchner Stadtbild passen. Einige von ihnen verhalten sich so, als würden sie Signale hören, andere scheinen direkt aus den Katakomben zu kommen. Erwa schreckt das nicht ab, er nimmt zwischen ihnen auf einer Parkbank Platz.

Gesellschaftliche Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit seien ihm wichtig, sagt er. Bei Berufsbezeichnungen spricht er das "-innen" immer mit, so wie es die Moderatorinnen im Fernsehen seit einiger Zeit machen. Die Besetzung seiner Serie ist auch deutlich diverser und inklusiver als die meisten anderen deutschen Produktionen. In den Hauptrollen sind neben etablierten Schauspielerinnen wie Sabine Timoteo oder Aglaia Szyszkowitz auch Newcomer wie der türkischstämmige Yasin Boynuince oder der Deutsch-Vietnamese Yung Ngo zu sehen. Letzterer spielt einen Staatsanwalt, die dunkelhäutige Dela Dabulamanzi eine Gerichtsmedizinerin - ganz selbstverständlich, ohne ihre Herkunft zu thematisieren.

"Wir haben mit unserem Medium die Möglichkeit, nicht nur die Gesellschaft abzubilden, sondern sie auch zu formen", sagt der Regisseur, der sich selbst als queer bezeichnet und Vorbehalte gegen Minderheiten abbauen will. Er lebe in einer sehr freien und offenen Welt, sagt er, das möchte er auch zeigen.

Das war schon bei seinem bislang größten Erfolg so, der Kino-Adaption des Jugendbuchs "Die Mitte der Welt". Darin gibt es schwule Sexszenen und lesbische Küsse; beim Bayerischen Filmpreis 2016 wurde er als bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet. In seiner Dankesrede sagte Jakob Moritz Erwa: "Dieser Preis ist für all jene, die anders leben und anders lieben."

Liebevoll spricht auch die Münchner Schauspielerin Aglaia Szyszkowitz über ihren Regisseur. Sie kennen sich seit vielen Jahren, beide sind gebürtige Grazer. Privat hätten sie sich auf Anhieb gemocht, sagt sie, bei der Arbeit habe man sich aber erst zusammenraufen müssen. "Jakob ist sehr leidenschaftlich bei der Sache", erzählt sie, "ich habe viel Feuer, er auch. Da kann es schon mal zu Explosionen kommen." Doch selbst wenn es am Set einmal laut geworden sei, denke sie gern an diese Arbeit zurück.

Szyszkowitz hat in "Katakomben" die Rolle der Stadtbaurätin übernommen, zur Vorbereitung traf sie sich mit der Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk. "Ihr war klar, dass ich keine Sympathieträgerin spiele", sagt sie, "da reagierte sie aber ganz cool darauf. Sie hat mir sogar Ratschläge bei meinen Formulierungen gegeben."

Die Anmerkungen Merks wurden in die Drehbücher übernommen, bestätigt der Regisseur. Überhaupt habe er viel nachgedacht über die Stadt, die als Schauplatz für einen solchen Stoff ideal sei und in die er vergangenes Jahr für neun Monate zurückgekommen ist. "Ich mag München", sagt er, "es ist aber nicht die Stadt, in der ich gewurzelt habe."

Vor zwanzig Jahren kam er hierher, noch vor seinem Abschluss ging er zurück nach Österreich, später zog er weiter nach Berlin. Aber vielleicht ist er ja bald wieder zurück in München: Zumindest das Serienende von "Katakomben" ist so angelegt, dass man die Geschichte jederzeit fortsetzen könnte. Doch das hängt von den Zuschauern ab und ihrer Bereitschaft, mit ihm in den Münchner Untergrund abzutauchen.

© SZ vom 13.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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