Gedenken an Pogromnacht:Es geht ums Hier und Jetzt

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Im Alten Rathaussaal wurde 1938 zum Pogrom gegen die deutschen Juden aufgerufen. Am gleichen Ort versammeln sich in diesem Jahr besonders viele, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen - sie erleben aufrüttelnde Reden von Michel Friedman und Charlotte Knobloch.

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"Die Demokratie ist bedroht", sagt Michel Friedman, und er lässt diesen Satz lange wirken. Bei diesem Gedenkakt, der an die Pogromnacht von 1938 erinnert, an die Plünderung jüdischer Geschäfte und an die Gewalt auf den Straßen, gehe es nicht um die Vergangenheit, es gehe um die Gegenwart. Es gehe "um unsere Zeit", sagt der Jurist und Publizist, "in der Jüdinnen und Juden Angst haben, nur weil sie jüdisch sind". Vor Jahrzehnten hätten jüdische Jugendliche mit ihren Eltern darüber diskutieren müssen, ob es ein Fehler war, in diesem Land zu leben. Jetzt würden ihnen die eigenen Kinder dieselbe Frage stellen. "Können Sie sich vorstellen, was das für mich bedeutet, und für die anderen?", fragt Friedman. Und es gehe längst nicht nur um die jüdischen Deutschen, sondern um alle, um die Freiheit.

Friedman spricht am Samstagabend im Alten Rathaussaal, an jenem Ort, an dem vor 81 Jahren Joseph Goebbels zum Pogrom gegen die deutschen Juden aufgerufen hat, zu einem Testlauf für den Holocaust. Die Stadt erinnert jedes Jahr daran, doch diesmal fühlt es sich anders an, nicht nur wegen des Anschlags auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober, am Feiertag Jom Kippur. Die "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus" zählt alleine in Bayern in den vergangenen Jahren Hunderte antisemitische Vorfälle. In München wurden im August ein Rabbiner und seine Söhne bespuckt. Mehr als ein Viertel der Deutschen haben laut einer Studie des Jüdischen Weltkongresses antisemitische Gedanken.

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2003, als der Grundstein für das jüdische Zentrum in München gelegt wurde, sagte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), sie habe ihre für die Auswanderung gepackten Koffer nun endlich ausgepackt, die jüdischen Münchner seien daheim angekommen. Jetzt, im Oktober 2019, riet Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte und Kultur, in der SZ dazu, die Koffer wieder hervorzuholen: "Es ist an der Zeit zu überlegen, was wir einpacken."

Diese Reaktion sei verständlich, sagt am Samstag Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). Es sei "beschämend für uns alle, die wir uns nicht in der Lage zeigen, solche menschenverachtenden Taten ein für allemal zu unterbinden". Es gelte, dem Hass entschlossen entgegenzutreten. Und er versichert: "Ich persönlich werde immer fest an der Seite der jüdischen Bevölkerung stehen, und ich bin sicher, ich werde nicht alleine sein."

Zumindest im Alten Rathaussaal ist der Andrang groß. 338 Stühle stehen im Raum, aber sie reichen bei Weitem nicht, die Menschen stehen vor den Fenstern und an der Wand entlang. Als Friedman spricht, unterbrechen sie seine Rede immer wieder mit Applaus. Er wünsche sich mehr Ehrlichkeit, sagt Friedman. Seit 50 Jahren höre er in Deutschland: Wehret den Anfängen. "Wer heute noch diesen Satz verwendet, hat nichts verstanden, wo wir uns heute befinden!" Der Satz sei ohnehin ein leeres Versprechen geblieben. "Es gab nie einen Tag in diesem Land, an dem es keine Anfänge gegeben hätte."

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Er wünsche sich mehr Einsatz für die Demokratie, ruft Friedman. In den Parlamenten sitze eine Partei, die Menschen verachte, Angst vor der Freiheit schüre und die Demokratie mit Füßen trete. "Vor vielen Jahren habe ich mit Freunden besprochen, sollte die NPD jemals im Bundestag sein, gehen wir. Die AfD ist nichts anderes", sagt er. Dennoch stehe er wieder hier: "Ich höre nicht auf, daran zu glauben, dass es so nicht sein muss. Ich bin nicht bereit, Zyniker zu werden." Es sei an der Zeit, mit Leidenschaft für die Freiheit zu kämpfen, sich nicht nur nach der AfD zu richten, sondern nach den eigenen Werten. Es sei Zeit, etwas zu tun. "Und fragen Sie mich bitte nicht mehr, was!"

Am Ende spricht IKG-Präsidentin Knobloch. Sie hat eine Rede vorbereitet, in der sie wie Friedman auch warnt, der Judenhass sei eine wachsende Gefahr für die gesamte Gesellschaft, und die Abgründe des Nazi-Regimes seien zwar weit entfernt, "wer aber glaubt, das werde ohne unser Zutun auf ewig so bleiben, der irrt". Doch zuerst spricht Knobloch frei. Als sie in der Gemeinde am 9. Oktober, dem Feiertag Jom Kippur, während des Schlussgebets erfahren hätten, was in Halle geschehen sei, seien sie tief betrübt und verzweifelt gewesen, erzählt sie. Doch "dann kam plötzlich der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München in dieser letzten Stunde zu uns", er habe gezeigt, dass er da sei. Und sie sei gerührt, dass so viele Menschen zu diesem Gedenkakt gekommen seien. "Wir haben darauf gewartet, dass wir das erleben: dass wir eine Gemeinschaft sind. Wir werden die Zukunft gemeinschaftlich bewältigen", sagt Knobloch. "Wir haben uns das immer gewünscht."

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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