Ausbildungsplatz-Suche:"Man müsste aber auf den einzelnen Jugendlichen schauen"

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Nachdenken über den richtigen Beruf und darüber, wie das eigene Leben aussehen soll: Der 15-jährige Sasha kann sich vieles vorstellen. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Betriebe suchen Azubis, Schulabgänger finden keinen Ausbildungsplatz. Doch wie bringt man sie zusammen? In der Villa K helfen Berufsberater Jugendlichen, eine sinnvolle Wahl zu treffen - ohne zu sehr auf den Bedarf der Wirtschaft zu schielen.

Von Kathrin Aldenhoff und Catherine Hoffmann

Der einfachste Weg für Sasha wäre der ins Hotel. Eine Ausbildung zum Hotelfachmann, zum Praktikum war er dort schon. Auch seine Mutter arbeitet im Hotel, ihm gefällt die Arbeit, sagt der 15-Jährige. Aber da ist eben auch diese Idee, in der IT-Branche zu arbeiten. Und die Frage, ob es sich nicht lohnen würde, diese Idee zu verfolgen. Coach Rebecca Gutwald glaubt, es würde sich lohnen. Und Sasha? Der hadert mit sich und zweifelt.

Was will ich werden? Was kann ich, was interessiert mich? Auf diese Fragen suchen Sasha und zehn weitere Münchner Jugendliche Anfang April Antworten. Die Mittelschülerinnen und Mittelschüler sind für ein viertägiges Seminar in die Villa K an den Starnberger See gekommen: Manche haben das erste Vorstellungsgespräch ihres Lebens, ein Fotograf macht ein Bewerbungsbild von ihnen und sie lernen, dass sie im Praktikum pünktlich kommen, Fragen stellen und morgens ihre Fingernägel schneiden sollten.

Sie sind 14, 15, 16 Jahre alt, und es steht eine Entscheidung an: Welchen Beruf wählen sie? Wie soll ihr Leben aussehen?

Die Villa K am Starnberger See steht benachteiligten Jugendlichen offen. Betrieben wird sie von dem Verein Kinderhaus am See. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)
Vier Tage verbringen die Jugendlichen in der Villa am Starnberger See, denken über mögliche Berufe nach, tauschen sich aus und spielen Verstecken. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Überall sprechen sie vom Fachkräftemangel, Unternehmen werben um neue Mitarbeiterinnen und Azubis, plakatieren und inserieren, analog und digital. In Bayern werden bis 2035 rund 700 000 Beschäftigte fehlen, das stellt eine Studie der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft fest. Der Ausbildungsmarkt kämpfe mit einem "Mismatch", heißt es: Die Unternehmen suchen Mitarbeiter, können Stellen aber nicht besetzen, weil die passenden Bewerber fehlen. Sinnvoll ausgesuchte, verpflichtende Praktika wären eine Maßnahme, heißt es - und das Einbinden der Eltern, die eine entscheidende Rolle bei der Berufswahl ihrer Kinder spielen. Denn die ist gar nicht so einfach.

Es gibt mehr als 300 Ausbildungsberufe. Trotz dieser Vielfalt interessiert sich die Hälfte der Jugendlichen in erster Linie gerade einmal für zehn Berufe. Bei den Mädchen und jungen Frauen sind es sogar mehr als 60 Prozent. Sie streben vor allem eine Ausbildung im Büro, in Arztpraxen und im Handel an. Junge Männer bevorzugen - seit vielen Jahren schon - die Kfz-Mechatronik und den Kaufmann für Büromanagement. Auch Fachinformatiker und Elektroniker stehen bei männlichen Jugendlichen hoch im Kurs. Frauen, die sich für Informatik begeistern? Eher Fehlanzeige.

Obwohl das Ausbildungsjahr längst begonnen hat, gibt es derzeit in vielen Berufen noch freie Ausbildungsstellen. Insgesamt standen im Ausbildungsjahr 2022/23 knapp 4150 gemeldete Bewerberinnen und Bewerber rund 7500 gemeldeten Ausbildungsplätzen gegenüber, zeigen Zahlen der Bundesarbeitsagentur. Die Betriebe suchen insbesondere Kaufleute, Verkäufer und Handelsfachwirte. Da sollte eigentlich für jede und jeden etwas Passendes dabei sein. Dennoch finden Azubi und Betrieb oft nicht zusammen.

Woran dies liegt, haben Wissenschaftler des Soziologischen Forschungsinstituts in Göttingen (Sofi) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung für ganz Deutschland untersucht. Häufigste Ursache: Unternehmen lehnen interessierte Jugendliche ab, weil sie die Bewerber nicht für geeignet halten. Oder die Bewerber entscheiden sich gegen den Betrieb, weil er keinen guten Ruf hat. Hinzu kommt, dass es für rund ein Drittel aller Lehrstellen überhaupt keine Kandidaten gibt, etwa weil die Unternehmen klein und wenig bekannt sind.

"Es fehlt die Brücke zwischen den Stellen, die frei sind, und den Jugendlichen", glaubt Katja Schubert. Sie begleitet das Seminar in der Villa K, seit zehn Jahren arbeitet die frühere Unternehmensberaterin bei "Dein München", einer Organisation, die Mittelschülern neue Perspektiven aufzeigen will. "In der Berufsberatung konzentriert man sich zu sehr darauf, was die Arbeitgeber brauchen", sagt Schubert. "Man müsste aber auf den einzelnen Jugendlichen schauen. Sonst fängt der zwar etwas an, bricht dann aber ab, weil es nicht das Richtige ist. Und irgendwann ist er völlig frustriert."

Katja Schubert war Unternehmensberaterin. Inzwischen arbeitet sie mit Jugendlichen, will sie rausholen aus ihrer Schublade "Mittelschule". (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Die Pandemie habe die Jugendlichen geprägt, sagt Katja Schubert. "Sie wurden drei Jahre lang nicht gesehen. Sich jetzt zu bewerben, sich zu zeigen - das ist ein Riesenschritt für manche."

Sasha sitzt mit Rebecca Gutwald in einem kleineren Raum der Villa K, das Einzelcoaching steht an. Die beiden notieren Berufe, die ihn interessieren, denken über seine Stärken nach und darüber, was ihm wichtig ist. Möchte er viel Geld verdienen? Drinnen oder draußen arbeiten? "Wenn es mit der IT nicht klappt oder ich nicht qualifiziert genug bin, dann geh ich ins Hotel", sagt Sasha. Rebecca Gutwald sieht ihn an. "Es kommt darauf an, was du willst", sagt sie. Und darauf, das Selbstbewusstsein zu haben, diesen Weg auch zu gehen, fügt sie später hinzu.

Arbeiten an der Zukunft: Sasha denkt mit Coach Rebecca Gutwald über den richtigen Weg nach. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Im Hotel hätten sie ihn gerne, sie suchen Leute, sagt Sasha. Er ist in der achten Klasse einer Mittelschule in Moosach, auf dem M-Zweig. M-Zweig bedeutet, dass er zehn Jahre zur Schule gehen wird und als Ziel die Mittlere Reife hat. Sasha ist vor zehn Jahren aus Moldawien nach Deutschland gekommen. Er spricht Deutsch, Russisch, Englisch und Moldawisch - also Rumänisch.

Dieses Jahr werden rund 3200 Jugendliche die Münchner Mittelschulen verlassen. 1650 von ihnen haben sich für den Quali angemeldet, 950 schreiben im M-Zweig die Prüfungen für den Mittleren Schulabschluss. Wer keine Prüfung schreibt, aber im Jahreszeugnis der neunten Klasse einen Notenschnitt von 4,0 oder besser hat, der hat die Mittelschule erfolgreich beendet.

Zwei Ziele gebe es in der neunten Klasse, sagt Bernd Wahl, Leiter der Mittelschule an der Lehrer-Wirth-Straße in der Messestadt Riem: den Abschluss, und dass die Jugendlichen einen Plan haben, wie es nach der Schule weitergeht. Etwa ein Drittel beginnt eine Ausbildung, ein Drittel wechselt auf eine weiterführende Schule, ein Drittel macht ein berufsvorbereitendes Jahr. Bernd Wahl hat in den vergangenen Jahren eine Tendenz bemerkt: "Immer weniger Schülerinnen und Schüler sind bereit, direkt eine Ausbildung anzufangen. Viele wollen lieber weiter zur Schule gehen."

Man dürfe nicht zu schnell auf die Jugendlichen schimpfen, wenn sie nicht wissen, was sie beruflich wollen, sagt Mittelschulleiter Bernd Wahl. Viele seien einfach in ihrer Entwicklung noch nicht so weit. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Dabei biete das Handwerk so viele Möglichkeiten. "Da werden unsere Schüler mit Handkuss genommen. Da brauchen sie keine guten Noten, Hauptsache die Motivation stimmt." Er erzähle das immer wieder, sagt der Schulleiter. "Aber wir erreichen nichts damit. Die Botschaft kommt nicht an, und das ist wirklich schade."

Einmal die Woche ist Ivana Ferenec, die Berufsberaterin der Agentur für Arbeit, an der Mittelschule. Sie sagt, viele Eltern wollen nicht, dass ihr Kind so früh arbeitet. "Die Eltern geben den Weg vor." Oft aber passten die Wunschvorstellungen der Eltern und die Realität nicht zusammen, weil zum Beispiel die Noten nicht gut genug sind. "Wir können ein Angebot machen, aber annehmen müssen es die Jugendlichen. Mehr als helfen geht nicht."

Uwe Classen macht seit 17 Jahren Angebote an dieser Schule, seit einem Jahr gemeinsam mit Ivana Ferenec. "Mit Frustration musst du umgehen können", sagt der ehrenamtliche Job-Mentor.

Ivana Ferenec und Uwe Classen beraten gemeinsam Jugendliche, welcher Beruf zu ihnen passen könnte. Was sie oft empfehlen: einen Probetag zu vereinbaren, um zu gucken, ob es für beide Seiten passt. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Es ist ein Dienstag Anfang Mai, ein junger Mann sitzt Classen gegenüber und erzählt, dass er eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker machen wolle, ein Bekannter mache das auch. Classen entgegnet, um die Berufsschule zu schaffen, müsste er bessere Noten haben. "Versteh mich nicht falsch, ich wünsch es dir", sagt er dem Schüler. "Du kannst das auch. Aber da ist so ein Fünkchen Faulheit." Der 16-Jährige lächelt, "ja, ich bin sehr faul", sagt er. Sie überlegen, ob vielleicht Lagerlogistik etwas wäre und vereinbaren, dass Uwe Classen ihm eine Mail mit Ausbildungsstellen schickt.

"Heute sind die Möglichkeiten da"

Der nächste will eine Ausbildung zum Informationstechniker machen, hat gute Noten, Classen nickt, lächelt und meint: "Das sieht super aus bei dir." Ein Mädchen hat am nächsten Tag ein Vorstellungsgespräch in einer Rechtsanwaltskanzlei, der nächste erklärt, sein Onkel hätte gesagt, Anlagenmechaniker für Heizung sei nichts für ihn, das sei viel zu schwer. Classen seufzt.

Es gibt in München 30 ehrenamtliche Jobmentoren an 18 Mittelschulen. Sie sind zusätzlich zu den Berufsberatern der Agentur für Arbeit und den Sozialarbeiterinnen des Jade-Projekts vor Ort, an manchen Schulen gibt es ähnliche Projekte, gefördert von der Stadt München.

Die Jugendlichen bekommen viel Unterstützung und es gibt offene Ausbildungsstellen, sagt Schulleiter Bernd Wahl. Anders als vor 25 Jahren, als ein Schüler 50 Bewerbungen geschrieben und drei Antworten bekommen hat - drei Absagen. "Heute sind die Möglichkeiten da."

Jürgen Martin (links) war früher im Topmanagement. Nun engagiert er sich ehrenamtlich und führt zum Beispiel mit Lanya ein Vorstellungsgespräch. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

In der Villa K hat sich die 15-jährige Lanya für ihr Übungs-Vorstellungsgespräch umgezogen, sie trägt jetzt ein langes schwarzes Kleid. "Erzählen Sie mal ein bisschen was über sich", sagt ihr Gegenüber. Lanya sagt, dass sie in die neunte Klasse der Mittelschule geht, dass sie gerne nachfragt und nicht schüchtern ist. Und dass sie nach der zehnten Klasse eine Ausbildung bei der Polizei machen möchte. Warum? "Wenn man älter wird, dann merkt man, dass die Welt ein bisschen kaputt ist", sagt die 15-Jährige. Am Ende sagt ihr Gegenüber: "Wenn ich ein Praktikum zu vergeben hätte, würdest du eines bekommen." Lanya strahlt.

Sasha sitzt währenddessen mit den anderen Jugendlichen oben im Gruppenraum, er chillt, hat für heute alle Aufgaben erledigt. Am Abend wollen sie ein Lagerfeuer machen und Stockbrot rösten. Es ist nicht leicht, den richtigen Weg zu finden. Einen Monat nach dem Seminar, sagt Sasha, er wolle erst einmal die Ausbildung im Hotel machen. Und die IT? Mal sehen.

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