Produktionsfirma "Fett & Wiesel":Warum München seine Filmpioniere vergaß

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Zufällig macht Haidhausen-Kenner Hermann Wilhelm auf diesem Foto eine spannende Entdeckung: Hinter den drei Burschen sind die bislang völlig unbekannten "Lichtspiele am Max-Weber-Platz" zu erkennen. (Foto: Haidhausen-Museum)

Isidor Fett und Karl Wiesel produzieren 50 Stummfilme, zählen zu den Gründern der Bavaria Film - und trotzdem erinnert sich kaum jemand an sie. Ein altes Foto führte nun auf ihre Spur.

Von Patrik Stäbler

Das hundert Jahre alte Foto, das ihn auf jenes "verrückte Stück Stadtteilgeschichte" gestoßen hat, so sagt es Hermann Wilhelm, zeigt drei Burschen am Max-Weber-Platz, die so gar nicht ins Haidhausen der 1920er-Jahre passen - von den Lackschuhen über die Einstecktücher bis hin zu ihren Ballonmützen. Ein über 80-jähriger Stammgast bringt dieses Bild eines Tages im Haidhausen-Museum vorbei, worauf dessen Leiter umgehend in die Recherche einsteigt. Schon bald findet Wilhelm heraus, dass die Jugendlichen zu einer Gruppe Kleinganoven gehören, die damals in den Herbergshäusern in der Grube leben. "Heute würde man sie Gangster nennen", sagt der Heimatforscher. Oder auf Bairisch: "Vorstadtschluris".

Noch spannender als die herausgeputzten Halunken ist für Wilhelm jedoch der Schriftzug hinter ihnen. "Lichtspiele am Max-Weber-Platz" ist dort zu lesen - "und davon hatte ich noch nie gehört", sagt der Museumsleiter. Dieser Satz ist bei ihm eine Seltenheit, wenn es um Haidhausen geht. Schließlich ist der 73-Jährige der vielleicht profundeste Kenner des Stadtviertels; obendrein ist er am Max-Weber-Platz aufgewachsen und auch noch Filmfan. Doch jenes Kino auf dem Foto ist ihm gänzlich unbekannt, weshalb Wilhelm nachforscht und peu à peu die Geschichte zweier Münchner Filmpioniere ans Licht bringt, die weitgehend in Vergessenheit geraten sind - vermutlich auch, weil sie Juden waren.

Der Modehändler Isidor Fett eröffnet das Kino... (Foto: Monacensia)

Isidor Fett, so heißt der eine, betreibt Anfang des 20. Jahrhunderts ein Bekleidungsgeschäft am Max-Weber-Platz 11. In jener Zeit gewinnt der Film als neues Medium zunehmend an Bedeutung, was den aus Galizien eingewanderten Geschäftsmann veranlasst, seinen Laden 1912 in ein Kino umzubauen - gemeinsam mit seinem Kompagnon Karl Wiesel.

...zusammen mit seinem Kompagnon Karl Wiesel. (Foto: Monacensia)

Die Eröffnung der Lichtspiele am Max-Weber-Platz ist für das Duo der Startschuss zu einem "kometenhaften Aufstieg", sagt Wilhelm. Nur ein Jahr nach der Kino-Eröffnung gründen die beiden die "Bayerische Film-Gesellschaft Fett & Wiesel", die binnen kürzester Zeit zu einer der stadtweit einflussreichsten Firmen in der Branche avanciert.

Ein Stummfilm führt in die ferne Zukunft - ins Jahr 2000

Mehr als 50 Stummfilme produziert das Unternehmen, darunter mehrere Blockbuster, wie man das heute nennen würde. Allen voran trifft dies auf "Die große Wette" aus dem Jahr 1916 zu, einer der ersten deutschen Science-Fiction-Filme überhaupt. Dessen Handlung spielt in "ferner Zukunft", im Jahr 2000, in der ein Physiker einen "Elektromensch" konstruiert, also einen Roboter. Diesen verkörpert Harry Piel, der auch als Regisseur und Drehbuchautor an dem Film mitwirkt. "Er war einer der berühmtesten Schauspieler seiner Zeit", sagt Hermann Wilhelm. "Harry Piel kannte damals jeder. Der war so bekannt wie heute ein Franz Beckenbauer."

Besuch bei den Elektromenschen: "Ein phantastisches Erlebnis aus dem Jahre 2000" verspricht der 1916 von Fett und Wiesel produzierte Stummfilm "Die große Wette". (Foto: Haidhausen-Museum)

Zusammen mit dem Superstar produzieren Fett und Wiesel etliche weitere Filme; Wiesel ist zeitweise auch Geschäftsführer der "Harry Piel Film Company GmbH". Die beiden Produzenten zählen seinerzeit zu den Big Playern in der Münchner Filmszene. Entsprechend gehört ihre Firma auch zu jenen sieben Unternehmen, die sich - um der Marktmacht der Ufa in Berlin etwas entgegenzusetzen - 1920 zur Emelka zusammentun. Ihr Name leitet sich von der Abkürzung MLK ab, was für Münchener Lichtspielkunst steht. Dieser europaweit tätigen Firma gehören nicht nur 100 Kinos in Süddeutschland, sondern bald auch erste Filmateliers in Geiselgasteig - die Keimzelle der heutigen Bavaria Filmstudios.

Beide sitzen im Vorstand der Emelka, aus der die Bavaria Film hervorging

Im Vorstand der Emelka sitzen neben Peter Ostermayr auch die Direktoren Isidor Fett und Karl Wiesel, "die als Filmgroßkaufleute in der ganzen Filmbranche jedem bekannt sind", wie die Süddeutsche Filmzeitung damals schreibt. Doch während Ostermayr bis heute allseits als Filmpionier und Gründervater der Bavaria Film gerühmt wird, seien Fett und Wiesel fast völlig in Vergessenheit geraten, sagt Hermann Wilhelm. "In den meisten Publikationen zur Geschichte der Filmstudios Geiselgasteig werden sie nur kurz oder gar nicht erwähnt." Dieses Schicksal teilen die beiden mit etlichen Jüdinnen und Juden, die in den 1920er-Jahren herausgehobene Positionen innehatten. "Nach dem Krieg wollte sich niemand an sie und ihre Geschichten erinnern", sagt der Haidhauser Heimatforscher. "Da ist vieles in Vergessenheit geraten."

Das Haidhausen-Museum zeigt eine Ausstellung über Münchens vergessene Filmpioniere. (Foto: Haidhausen-Museum)

Um die Erinnerung aufleben zu lassen, hat Wilhelm eine Ausstellung über Isidor Fett und Karl Wiesel konzipiert, die an diesem Sonntag eröffnet wird. Sie zeichnet den rasanten Aufstieg des Duos ebenso nach wie sein trauriges Ende. Während Fett 1933 überraschend stirbt, leidet sein Kompagnon in den Folgejahren unter den Schikanen der Nazis und muss sich wie andere Branchengrößen als "Filmjude" beschimpfen lassen. 1938 fliehen Karl Wiesel und seine Ehefrau in die Schweiz; drei Jahre später gehen sie an Bord der SS Navemar mit Ziel Havanna. "Das war ein Erz- und Kohlefrachter, auf dem mehr als tausend Flüchtlinge unter schrecklichen Bedingungen lebten", sagt Wilhelm. Sechs Passagiere sterben auf hoher See - darunter Karl Wiesel, den der Typhus dahinrafft. Ende 1941 meldet die deutsch-jüdische Zeitung Aufbau in New York: "Karl Wiesel, einer der führenden Männer der deutschen und europäischen Filmbranche, ist, wie wir erst jetzt erfahren, auf dem Unglücksschiff Navemar am 25. August, kurz vor seinem 60. Geburtstag, in den Armen seiner Gattin gestorben."

Eröffnung der Ausstellung im Haidhausen-Museum, Kirchenstr. 24, am Sonntag um 14 Uhr. Danach bis Ende Juni immer sonntags von 14 bis 17 Uhr und von Montag bis Mittwoch 17 bis 19 Uhr. Begleitet wird die Ausstellung von dem Buch "Künstler, Kinos, Volkstheater - Kunst und Kultur in Haidhausen", das für 30 Euro im Museum erhältlich ist.

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