Das großformatige Foto zeigt einen kargen Raum mit weiß getünchten Rohren an der Decke, Kabelgewirr an der grob verputzten Wand, gekacheltem Boden und einem kleinen vergitterten Fenster, durch das sich das Tageslicht müht. Es ist ein Kellerraum, es ist eine Wohnung. Da sind auch eine Kochplatte, ein kleiner Ofen und eine Matratze. Es ist die Wohnung eines Münchner Bürgers, der die Straßenzeitung Biss verkauft und sich dadurch ein schmales Auskommen sichert. Es ist die Wohnung von jemandem, der sich zurück in ein geregeltes Leben kämpft.
Auf einem anderen Foto, ein Stockwerk höher, thront der goldglänzende Friedensengel über den Dächern Münchens. Die beiden Bilder des Gautinger Fotografen Rainer Viertlböck sind Teil der Herbstausstellung des Kunstkreises Gräfelfing, die noch bis zum 8. Dezember 2019 im Alten Rathaus von Gräfelfing (Bahnhofstraße 6) zu sehen ist und die den sinnbildlichen Titel "From down to up" trägt: von unten nach oben, aus dem Keller bis hoch zum Friedensengel, aus der Obdachlosigkeit zurück ins Leben - all das schwingt im Titel mit, all das ist München.
Die München-Fotografien des international anerkannten Architekturfotografen Rainer Viertlböck wurden schon vielfach gesehen: Mit ferngesteuerten Drohnen, aus Helikoptern und von Hebebühnen aus hat er vor Jahren die viel beachtete Bilderserie "Der neue Blick auf München" geschaffen. Aus der Vogelperspektive rückt der Betrachter auf Augenhöhe mit bekannten München-Symbolen: dem Friedensengel und der Quadriga auf dem Siegestor, er blickt auf das funkelnde Winter-Tollwood von oben. Er staunt über die bombastischen Häuserfassaden der Maximilianstraße und über den so weiß-blauen Himmel über der prächtigen Stadt. Es ist München in all seinem Glanz. Ein Teil der Bilder sind im ersten Stock im Alten Rathaus zu sehen.
Schon immer hat Viertlböck dazu ein Gegenstück gefehlt, das Thema München war noch nicht abgeschlossen, ihm fehlten die Innenansichten. Mit der Bilderserie der Wohnungen von Biss-Verkäufern hat er jetzt einen Kontrast zur schnieken Stadt geschaffen. Die Aufnahmen sind extra für die Gräfelfinger Schau entstanden. Der Fotograf hat die Wohnungen mit derselben Multi-Shot-Technik fotografiert, mir der er auch ein Milliarden-Architektur-Bauwerk ablichtet. Die großformatigen Bilder bestechen in ihrer Schärfe bis ins letzte Detail. Für Viertlböck war das eine Frage des Respekts, ein Schnappschuss hätte den Betrachter zum oberflächlichen Hinwegschauen verleitet, so ist er aber förmlich gezwungen, genau hinzuschauen. Es ist dieselbe Technik, mit der Viertlböck auch schon die Chabolas, die ärmlichen Behausungen afrikanischer Emigranten, in Südspanien fotografiert hat.
Von oben blickt der Friedensengel über München.
Schlichte Küche - und doch ein Neuanfang für einen ehemaligen Obdachlosen.
Der Fotograf Rainer Viertlböck schaut genau hin und hinter die Fassaden der so reichen Landeshauptstadt.
Nicht nur in der Technik, auch inhaltlich knüpfen die Wohnungen der Biss-Verkäufer an die Chabolas an. Er arbeite in großen Bögen, sagt Viertlböck. Thematisch sind seine Arbeiten miteinander verflochten. Sie zeigen stets Glanz und Verwerfung, machen Licht- und Schattenseiten der Welt sichtbar. Er hat Fukushima im Jahr 2012 fotografiert und zuletzt Konzentrationslager der Nazis in Europa.
In der aktuellen Ausstellung ist es die soziale Spaltung der Stadt, die er visuell einfängt. Einfache, bescheidene Wohnungen, wie er sie zeigt, sind aus der Nachbarschaft, gerade auch im gediegenen Würmtal, weitgehend verschwunden. Und mit ihnen die Bewohner. Im Zuge der Gentrifizierung wurden sie irgendwo ganz an den Rand gedrängt. Die Ausstellung zeigt die schöne Oberfläche von München und die Unterfläche der Stadt gleichermaßen, sagt Viertlböck, während sein Blick über die eigenen Bilder wandert. "Ich schau' gerne hin." Genau hin, meint er wohl.
Die Ausstellung ist bis 8. Dezember jeweils freitags, samstags und sonntags von 15 bis 18.30 Uhr geöffnet. Rahmenprogramm: www.kunstkreis-graefelfing.de.