Abschiebungen von Asylbewerbern:Flüchtlingsrat protestiert gegen "Tricks und Täuschungen"

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Im Oktober 2021 begann der Protest der Sierra Leoner - erst vor der Zentralen Ausländerbehörde in der Hofmannstraße in Sendling, dann am Georg-Freundorfer-Platz im Westend. (Foto: Aaron Karasek/imago images/aal.photo)

Das Aufenthaltsrecht wird zum Jahreswechsel gelockert. Davon würden besonders die Sierra Leoner profitieren, die 14 Monate mit einem Camp auf ihre Lage aufmerksam machten. Doch nun sollen gleich mehrere Abschiebungen anstehen.

Von Niccolò Schmitter

Fernab der öffentlichen Wahrnehmung fand im Münchner Westend ein historisches Ereignis statt: Die längste Dauerkundgebung der Stadtgeschichte ging vergangene Woche zu Ende. Das Protestcamp der Sierra Leoner, die fast 14 Monate lang gegen ihre drohende Abschiebung demonstriert hatten, wurde abgebaut.

Zwei Tage vorher geschah - je nach Deutung - auch in Berlin Historisches. Der Bundestag verabschiedete zwei Gesetze, die zugunsten Geflüchteter Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht nach sich zogen. Bei den Grünen war von einem "Paradigmenwechsel der Flüchtlingspolitik" die Rede, der Abbau des Camps in München schien dann gleich die Reaktion zu sein, die diese Einschätzung untermauert. Haben die Sierra Leoner ihr Ziel gar erreicht?

Die Ereignisse in Berlin und München hätten nichts miteinander zu tun, versichert Mduduzi Khumalo: "Das Camp macht eine Pause, es ist kein Abschluss." Der Aktivist begleitet und unterstützt die Sierra Leoner, seit sie im Oktober 2021 ihren politischen Protest begonnen haben. Der Abbau habe vielmehr mit der Kälte und den hohen Strompreisen zu tun, die Finanzierung sei nicht mehr möglich gewesen, so Khumalo. Einen Anlass zur Beendigung sähen die Sierra Leoner auf jeden Fall nicht.

Flüchtlinge erhalten 18 Monate Zeit, um das Bleiberecht zu bekommen

Das liegt auch an der Abschiebepraxis der bayerischen Behörden, die heuer ein neues Maß erreicht hat. Erst kürzlich stellte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) eine Steigerung an Abschiebungen "um elf Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum" fest. Zugleich ließen er und die CSU keinen Zweifel an ihrer offenen Ablehnung der Gesetzesänderungen aus Berlin. Vor allem das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht sehen sie kritisch. Das neue Recht sieht vor, dass Geflüchtete, die zum vergangenen 31. Oktober seit fünf Jahren ohne sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, für 18 Monate ein neues Aufenthaltsrecht erhalten. Das soll ihnen ermöglichen, Voraussetzungen für ein Bleiberecht in Deutschland zu erfüllen.

Davon würden auch viele der Sierra Leoner profitieren, die seit Jahren in Bayern geduldet werden und sich hier eine neue Existenz aufgebaut haben - bis ihnen vor 14 Monaten von den Behörden auf einen Schlag die Arbeitserlaubnis entzogen wurde. Das neue Recht soll zum 1. Januar 2023 in Kraft treten und tatsächlich haben die Ausländerbehörden in jüngster Zeit eine auffällige Rigorosität in Sachen Abschiebungen an den Tag gelegt - wie der Fall Chris K. zeigt.

Protestiert gegen die Abschiebungen: Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. (Foto: Stephan Rumpf)

Der sierra-leonische Familienvater wurde offenbar bei einem Termin beim Landratsamt von der Polizei empfangen und ohne Vorwarnung in Abschiebehaft genommen. Die Abschiebung hätte gleich am nächsten Morgen stattfinden sollen und wurde nur durch seine vehemente Weigerung verhindert. Chris K. lebt seit sechs Jahren in Deutschland, hat hier ein dreijähriges Kind und eine schwangere Lebensgefährtin. Laut seinem Anwalt würde er zweifelsfrei vom neuen Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren. Für den Bayerischen Flüchtlingsrat ist das bewusstes Kalkül der Behörden: "Das bayerische Innenministerium versucht mit allen Tricks und Täuschungen, Geflüchtete noch vor Inkrafttreten des Chancen-Aufenthaltsrechts abzuschieben", so dessen Sprecher Alexander Thal.

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Chris K. ist nicht der einzige Fall, wie der Bayerische Flüchtlingsrat bestätigt. Derzeit befänden sich zwei Sierra Leoner in Abschiebehaft, ein Dritter wurde bereits ausgeflogen. Auch die Fälle bei Geflüchteten aus anderen Ländern häufen sich, die schwere psychische Belastung einer ständig drohenden Abschiebung ist bei allen sehr präsent. Da die Menschen häufig bei Terminen in den Landratsämtern inhaftiert werden, sei auch das Vertrauen in die Behörden jetzt nachhaltig zerstört, so Mduduzi Khumalo: "Jedes Mal, wenn sie mit Autoritäten reden, leben sie im Gefühl, getäuscht zu werden." Wenn das neue Gesetz planmäßig in Kraft tritt, können sie zumindest vorerst durchschnaufen.

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