Nachtleben:Arbeiten, damit andere feiern können

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Emil-Bulls-Sänger Christoph von Freydorf ist ganz nah dran an seinen Fans. Die Geschichte der Band ist untrennbar verbunden mit dem Kulturzentrum im Westen der Stadt. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Backstage arbeiten mehr als 100 Menschen, von Festangestellten bis zu Freiberuflern. Unterwegs auf einem der größten Party-Areale der Stadt.

Von Melanie Staudinger (Text) und Stephan Rumpf (Fotos)

"Emil", schreit einer in der Menge. "Bulls", antworten Hunderte andere. Emil! Bulls! Emil! Bulls! So geht das nun schon eine ganze Weile im Backstage, das von den Temperaturen her eher einer Sauna denn einer Konzerthalle gleicht. Die Fans stehen dicht gedrängt, haben wild gefeiert, getanzt, gesungen und ihre Idole gefeiert. Jetzt wollen sie mehr. Doch die Band muss vor der Zugabe erst einmal durchatmen. Durch eine Hintertür im Backstage-Bereich verschwindet sie kurz nach draußen. Die Rufe sind dort trotzdem zu hören.

Die Emil Bulls aus Schäftlarn haben heute ein Heimspiel. Sie wuchsen im Backstage zu einer der wichtigsten Alternative-Metal-Bands in Deutschland heran, ihre Geschichte ist untrennbar verbunden mit dem Kulturzentrum im Westen der Stadt. "Sie sind immer mal wieder hier", sagt Backstage-Chef Hans-Georg Stocker. Für Konzerte und auch privat. "Einer der Gitarristen hat hier auch mal als Barkeeper gearbeitet", erzählt er.

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Es ist kurz vor Mitternacht auf einem der größten Party-Areale der Stadt. Um die 300 000 Besucher zählt Stocker jedes Jahr auf dem Gelände nördlich der S-Bahn-Station Hirschgarten, das bei Metalfans ebenso beliebt ist wie bei Anhängern von Reggae und Hip Hop. Sie tanzen bei Konzerten in der Halle, dem Club, dem Werk und dem Werkstattstudio. Sie hören Vorträge auf der Backyard Open-Air-Bühne oder schauen Filme. Sie feiern bei Partys oder sitzen in einem der wenigen Biergärten der Stadt, die nicht schon um 23 Uhr den Ausschank einstellen. Manche kommen nur, um sich ein Spiel des FC Bayern anzuschauen.

Es gibt wenige Orte, die so sinnbildlich für das Münchner Nachtleben stehen wie das Backstage. Das Provisorische, das zum Dauerzustand werden will, das Werben um ein anspruchsvolles Publikum, das Verdrängtwerden aus einer Stadt, die immer dichter besiedelt ist und in der die Menschen so hohe Mieten bezahlen, dass sie immer weniger bereit sind, Störungen wie Bassdröhnen oder auch nur eine etwas lautere Unterhaltung zu dulden. "München ist businessmäßiger geworden", sagt Stocker. Das soll heißen: Die Leute gehen zwar weg, aber längst nicht mehr so oft und so lange wie früher. Nur wenige Clubs wie die Milchbar sind jeden Tag gut gefüllt, und selbst die sogenannte Feierbanane von der Sonnenstraße bis zum Maximilansplatz erinnert unter der Woche nach zwei Uhr nachts eher an eine einsame Geschäftsstraße als an eine Partymeile.

Das Backstage hat reagiert. Es finden weniger Partys draußen statt, die Konzerte sind mehr in den Fokus gerückt, die bereiten weniger Schwierigkeiten wegen des Lärmschutzes. Electro-Musik im Freien zum Beispiel sei fast unmöglich geworden, sagt Stocker. Man müsste die Lautstärke so weit runterdrehen, dass die Tanzenden kaum mehr Spaß daran hätten. "Dann lieber nicht." Hunderttausende Besucher, 1000 Veranstaltungen, davon 500 bis 600 Konzerte, regelmäßig wird das Backstage zum Club des Jahres gewählt. Das sind durchaus beeindruckende Ausmaße. Und doch ist sich das Backstage treu und familiär geblieben.

Gerade findet auf dem Areal das "Free & Easy"-Festival statt. 18 Tage lang spielen mehr als 200 Bands, es gibt Partys, Vorträge und Filmvorführungen - alles ohne Eintritt. Schon am frühen Abend ist das Gelände an diesem Donnerstag gut besucht. Vor dem Eingang hat sich eine kleine Schlange gebildet, Sicherheitskontrollen müssen auch hier sein. Der Soziologe Rainer Sontheimer spricht im Backyard über "Deutschrock als rechte Grauzone in der Musik", die Zuhörer lauschen interessiert. Im Club huldigen wenig später die Heisenberghs in ihren Liedern dem Biertrinken, die Fans können direkt vor der Bühne abgehen, ohne Absperrung oder Security.

Während die Emil Bulls im Werk schwitzen, legt ein paar Meter weiter in der Halle ein anderer auf, der kein Unbekannter ist im Backstage: Florian Weber, der Schlagzeuger der Sportfreunde Stiller. Die sprangen, damals noch unter dem Namen Stiller, beim Fest zum siebten Geburtstag des Backstage ein, als die Hauptband ausfiel. Das Konzert war ein so großer Erfolg, dass man sich heute noch davon erzählt.

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Von Melanie Staudinger (Text) und Stephan Rumpf (Fotos)

Weber und das Seattle Soundsystem spielen ihre Musik heute vor einem Publikum, auf das man nicht allzu oft trifft in Münchner Clubs: vor einer Gruppe Menschen mit Behinderung aus Mössingen nahe Reutlingen. Sie machen zwei Wochen Urlaub in Herrsching. "Wir kommen immer mal wieder zum Free & Easy", sagt eine Betreuerin. Nur einer der Klienten hat sich nach ganz hinten auf einen Stuhl verzogen, die anderen tummeln sich auf der Tanzfläche. Dort ist um halb zwölf noch genug Platz, auch mit Rollstuhl lässt es sich prima tanzen.

An der Bar steht Gerd. Sein Nachname spielt keine Rolle, hier sind alle per Du. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet Gerd als Barkeeper und als sogenannter Runner, weshalb er ein Funkgerät an der Schulter trägt. Droht irgendwo Bier auszugehen, schafft er neues heran. Gekonnt schiebt er dann bis zu vier Kästen auf einer Sackkarre durch die Menge. Wie er zu seinem Beruf kam? "Ich war früher bei Konzerten hier und hab irgendwann einen Job gebraucht." Seine Einsatzzeiten: unter der Woche so bis ein oder zwei Uhr, am Wochenende kann eine Schicht schon mal bis sechs Uhr oder länger dauern. "Man gewöhnt sich dran", sagt Gerd und lacht. Er muss weiter, die nächste Lieferung wartet. Ohne Bier geht nichts, dazu ist es viel zu warm.

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Mehr als 100 Leute arbeiten im Backstage, damit andere Nacht für Nacht feiern können. Der Großteil ist fest dabei, wie Stocker sagt, Tontechniker, Hausmeister, Imbissverkäufer, Büroangestellte, das Personal an Theke, Abendkasse und Garderobe, Azubis zur Veranstaltungstechnikerin oder zum Veranstaltungskaufmann. Dazu kommen freiberufliche Tontechniker oder die Mitarbeiter der Sicherheitsfirma und des Reinigungsdienstes.

Stocker sitzt in der neuen Lounge, einem Balkon im ersten Stock mit Dach und gemütlichen Sofa-Möbeln. Von dort aus kann er einen Gutteil seines Geländes überblicken. Die Hälfte davon gehört ihm, der andere Teil ist gepachtet. Bis 2023 ist die Existenz gesichert, so lange gilt die aktuelle Baugenehmigung. Was danach kommt? Unklar. Vor allem jetzt wieder, nachdem nebenan auf dem Postareal zwei Hochhäuser in den Himmel wachsen sollen. Mit Platz für Kultur und Sport, wie die Investoren versprechen. Stocker ist skeptisch. Wieder einmal wird er wohl in den Kampf ziehen müssen. Das wird wieder einmal viel Kraft kosten, Kraft, die er sehr viel lieber in Projekte denn in Streitereien investieren würde. Er will erweitern, eine Halle für bis zu 3000 Besucher soll entstehen, darauf wartet München schon lange. Dazu weitere Säle für Konzerte, Ateliers, Bandübungsräume, Wohnungen für Mitarbeiter, Urban Gardening auf dem Dach. Doch jetzt muss Stocker mal wieder warten, wie er sagt. Warten darauf, was Stadt und Investoren machen.

Mit Provisorien kennt er sich aus. Fast 29 Jahre ist es her, dass Stocker und seine Leute in einem Fürstenrieder Freizeitzentrum am Wochenende Party machten, zum ersten Konzert kamen 17 Leute. Danach zog das Backstage an die Helmholtzstraße nahe der Donnersbergerbrücke. Die Toten Hosen gaben hier Geheimkonzerte, die Ärzte und Bad Religion. Doch der Räumungsbefehl kam und der damalige Oberbürgermeister Christian Ude half, an der Friedenheimer Brücke eine neue Heimat zu finden.

Später ging es weiter an die Reithknechtstraße. Im Brachland konnten sich Bands wie Besucher austoben. Eine kleine Oase entstand, ein lauter Mikrokosmos in der Stadt. Doch wieder rückte die Wohnbebauung an die Konzertlocation heran, dieses Mal in Gestalt von "Friends", einer Reihe von Luxusapartment-Klötzen. Und nun drohen halt die Türme.

Im Backstage machen sie unbeirrt weiter. Für das Programm ist Daniel Lazak verantwortlich. Auch er ist nicht neu, arbeitet seit zehn Jahren hier. "Telefonieren und E-Mails schreiben", so beschreibt er seine Tätigkeit, die freilich weit interessanter ist als das. Lazak kümmert sich um die Organisation der Konzerte, der Partys. Er entscheidet, welche Band wo spielt. Er hält Kontakt zu den Tour-Agenturen der Künstler, verhandelt Gagen und hilft bei all den großen und kleinen Problemen der Musiker.

"Eigentlich sind die Künstler immer ganz entspannt", erzählt Lazak. Und wenn es mal Irritationen gebe, habe er zum Glück ein eingespieltes Team, auf das er sich verlassen könne. Ende Juli etwa, als die US-amerikanische Metalband Life of Agony sich zum Auftritt angesagt hatte. Die Rocker wollten ein Video zu ihrer neuen Single aufnehmen, es sollte im Backstage entstehen. "Das Shooting ist nicht so gelaufen, wie die Band es sich vorgestellt hat", sagt Lazak. Die Musiker hätten sich mehr Publikum gewünscht und wollten alles abblasen. Nach viel gutem Zureden aber klappte es dann doch.

Über zu wenige Fans können sich die Emil Bulls nicht beschweren. Bei ihrem Auftritt hätte kaum einer mehr ins Werk gepasst. Und viel ausgelassener hätte die Stimmung auch nicht sein können. Nach dem Konzert machen sich viele trotzdem gleich auf den Heimweg. Die S-Bahnen fahren nicht mehr lange. Und arbeiten müsse man ja morgen auch wieder. Dennoch geht die Party weiter, wenn auch nicht bis zum Morgengrauen. München eben.

© SZ vom 05.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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