Stiefkind Münchner Norden:Reich und unsexy

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Der Norden ist der Wirtschaftsmotor des Landkreises. Dennoch fühlen sich die Menschen hier wie Stiefkinder behandelt. Ob bei der MVV-Reform, den Polizeihubschraubern oder dem Uran im Garchinger Reaktor - zuletzt gab es viele Entscheidungen zu seinen Lasten

Von Martin Mühlfenzl und Sabine Wejsada

Man kennt es aus Märchen und modernen Patchworkfamilien: Die Stiefkinder haben einen schweren Stand, während den leiblichen Nachkommen alle Wünsche von den Augen abgelesen werden. Aschenputtel muss sich krumm und bucklig arbeiten, die anderen leben dagegen in Saus und Braus.

Im Norden des Landkreises München fühlen sich die Menschen mitunter genauso: wie Stiefkinder. Der Süden, so sehen sie es hier, hat es nicht nur bei Föhnwind schön, während man von Aschheim bis Unterschleißheim allenfalls mit dem Ofenrohr ins Gebirge schaut. Nach Aying oder Sauerlach, Pullach und Grünwald braucht man sich gar nicht erst auf den Weg zu machen, denn man käme nie an. Die Straßen sind chronisch verstopft, mit der S-Bahn dauert es ewig und teuer ist es noch dazu.

Die großen Verlierer bei der Tarifreform

Bei der MVV-Tarifreform etwa sind gleich drei prosperierende Nordgemeinden die großen Verlierer: Unterschleißheim, Garching und Ismaning gehören neuerdings, wie vor zwei Wochen bekannt wurde, zu den Außenzonen 1 oder 2; das Dorf Deisenhofen dagegen - was die Fahrkartenpreise betrifft - künftig zum Münchner Innenraum. Ein Umstand, der den betroffenen Rathauschefs, wie Ismanings Bürgermeister Alexander Greulich (SPD), die Zornesröte ins Gesicht treibt.

Es sind aber beileibe nicht nur das teure S-Bahn- oder U-Bahnticket, was die Menschen im Norden ärgert. Die Technische Universität, das wurde am Donnerstag bekannt, darf in ihrem Forschungsreaktor II in Garching auch in Zukunft hoch angereichertes Uran nutzen. Die erste verbindliche Frist zur Umrüstung war am 31. Dezember 2010 verstrichen, auch an den zweiten Termin Ende 2018 sieht sich die Staatsregierung nicht gebunden.

Und mit dem in der laufenden Woche vom Luftamt Südbayern genehmigten Umzug der Hubschrauberstaffel der Landespolizei vom Flughafen nach Oberschleißheim ist der Münchner Norden um eine weitere Belastung reicher. "Es ist eine Katastrophe. Wir werden hier immer weiter belastet", schimpft Gabriele Kämpf, die Unterschriften gegen die Verlegung der Polizeihubschrauber gesammelt hat und jetzt "total entsetzt" und "verbittert" ist.

Die Politik, so ihr Vorwurf, vergesse die Menschen im Norden der Stadt. "Mit dem Münchner Norden kann man es ja machen", sagt auch Reinhard Sachsinger von der Aktionsgemeinschaft "Rettet den Münchner Norden".

Der Norden muss die Schadstoffe des Heizkraftwerks in Unterföhring ertragen. (Foto: Florian Peljak)

So macht man das offenbar mit den Stiefkindern: Weil der Landkreisnorden ohnehin schon belastet ist, kommt es auf eine Belastung mehr oder weniger nicht an. Flughafen, Forschungsreaktor, Heizkraftwerk, Klärwerk, Hubschrauberstaffel, Autobahnkreuze: Wohin mit allem, was Lärm macht, stinkt und gefährlich ist?

Ab in den Norden! Dies scheint das Motto der Politik und Planungsbehörden zu sein. Dagegen einen Südring der Autobahn, um die Städte und Gemeinden im Norden zu entlasten? Gott bewahre! Nicht in den schützenswerten Gefilden südlich der Landeshauptstadt. Eine Stadt-Umland-Bahn im Norden, um nicht erst mit der S-Bahn von Ismaning ins Stadtzentrum fahren zu müssen, um von dort wieder raus nach Unterschleißheim zu kommen? Wäre schön, aber forcieren will sie niemand so recht.

Klar, es kommt auch immer auf die Perspektive an. Vom Süden aus gesehen müssen die Klagen in den Nordgemeinden wirken wie das Gejammere eines verwöhnten Kleinkindes, das immer das neueste Spielzeug geschenkt bekommt. Es ist schon richtig: Der Norden ist der pulsierende Motor des Landkreises; ein Hochtechnologie-Standort, der maßgeblich für den ökonomischen Erfolg des bevölkerungsreichsten Landkreises im Freistaat verantwortlich ist und den Wohlstand seiner Bürger sichert.

Der Norden ist der Motor

Das lässt sich in beeindruckenden Zahlen erfassen. Die fünf Nordkommunen Garching, Ismaning, Ober- und Unterschleißheim sowie Unterföhring erwirtschaften etwas mehr als 30 Prozent der Umlagekraft des Landkreises, die in diesem Jahr erstmals mehr als eine Milliarde Euro betragen wird. Die großen Fünf der 29 Städte und Gemeinden im Landkreis überweisen in diesem Jahr mehr als 150 Millionen Euro Kreisumlage. Kirchheim und Aschheim eingeschlossen sind es 175 Millionen Euro.

Nun könnten Spötter aus dem Süden einwerfen, alleine Grünwald zahlt etwa 118 Millionen Kreisumlage. Schon richtig. Aber die Isartalgemeinde ist ein Steuerparadies für Briefkastenfirmen und Millionäre aus der Fußballbundesliga. Eine Gemeinde ohne echtes Gewerbe, ein Parkplatz für SUVs und Limousinen im Grünen. In Unterföhring, Sitz der Allianz, des Dax-Unternehmens Pro Sieben Sat 1 und des Bezahl-Fernsehsenders Sky, arbeiten mehr als 22 000 Menschen; Einwohner hat die Kommune gerade einmal 11 500.

Tarifreform
:Aufstand im Zonenrandgebiet

Die Kritik an der geplanten MVV-Reform wird größer und lauter. Vor allem Politiker aus Kommunen im Landkreisnorden, die nicht zum Innenraum gehören werden, kündigen Widerstand an.

Von Martin Mühlfenzl

Wer morgens nach Unterföhring einpendelt oder am Abend aus der Gemeinde heraus, muss viel Zeit und gute Nerven haben. Den Föhringer Ring als Nadelöhr zu bezeichnen, ist fast eine Verharmlosung. Stillstand ist hier der Alltag.

Nur wenige Kilometer weiter schleichen in Spitzenzeiten bis zu 160 000 Fahrzeuge am Tag über die Ostumfahrung der A 99 und an der Anschlussstelle Aschheim/Ismaning vorbei. Die frisst sich seit zwei Jahren einem steinernen Kraken gleich in die Landschaft und verteilt den Verkehr in alle Himmelsrichtungen. Vor allem aber Richtung Norden - nach Ismaning, Garching und über die Bundesstraßen B 388 und B 301 zum Flughafen. "Wir ersaufen im Verkehr", sagt Ismanings Bürgermeister Greulich - und meint das auch genau so.

Keine Region der Republik erlebt eine derartige Dynamik. Unterschleißheim hat längst mehr als 30 000 Einwohner, Kirchheim gehört zu den am schnellsten wachsenden Kommunen. Doch die große Hilfe bleibt aus. Kirchheims Bürgermeister Maximilian Böltl (CSU) muss es schon als Erfolg verkaufen, wenn er an der A 99 neue Lärmschutzwände einweihen darf, während dahinter die Fahrzeuge bald auf zehn Spuren rollen. Der Ausbau des Autobahnrings - er wird den Verkehr nicht lange schneller fließen lassen, sondern nur noch mehr Verkehr anziehen.

Deshalb ertönt aus dem Norden immer wieder ein Hilferuf, den sie im Süden geflissentlich ignorieren. Oder mit schönen Bildern kontern, auf denen sie mit Plakaten im Grünen zu sehen sind. Darauf die Botschaft: "Nein zum Südring". Oder: "Rettet die Natur. Rettet das Isartal." Nur, wer rettet den Norden? Peter Paul Gantzer, SPD-Landtagsabgeordneter aus Haar, versucht es seit Jahrzehnten. Sein Credo: Der Mensch müsse im Vordergrund stehen.

Der Autobahn-Südring, dieses höchst umstrittene Projekt, liegt auch Christoph Leicher am Herzen, als Chef der Industrie- und Handelskammer und Unternehmer aus Kirchheim so etwas wie der Infrastruktur-Beauftragte der Region. Es sind nicht nur die Datenautobahnen, die Unternehmer interessieren. Er werde immer daran erinnern, dass im Süden ein Stück Autobahn fehle. Leicher wünscht sich aber weitergehende "Visionen", um den Norden zu stärken und zu entlasten: etwa mit einer Stadtbahn, vielleicht sogar bis Kirchheim.

Immerhin Langzüge auf der S-Bahn

Derweilen nimmt der Druck auf den Norden weiter zu. Hubschrauber in Oberschleißheim, die nicht enden wollende Debatte um eine dritte Startbahn für den Flughafen, der zwar nicht im Landkreis München liegt, dessen Maschinen aber hier in den Himmel steigen. Und um zum Airport im Erdinger Moos zu kommen, muss der Landkreis durchquert werden. Entweder auf dauerhaft verstopften Zubringerstraßen oder in chronisch störanfälligen S-Bahnen. In diesen drängen sich schon heute Passagiere und Pendler wie die Sardinen. Seit kurzem verkehren auf der Linie der S 8 immerhin Langzüge.

Die Geduld von Ismanings Bürgermeister Greulich jedenfalls ist genau wie die seine Kollegen in den Nordkommunen bald erschöpft: "Langsam bräucht's wirklich Flugtaxis, damit wir und alle, die bei uns wohnen und arbeiten, in unsere Ortschaften kommen."

Wer so stiefmütterlich behandelt wird, träumt eben von Flugtaxis. Aber eigentlich wartet der Norden auf Hilfe. Auf Hilfe von den Geschwistern im Süden, vom Kreis und vom Freistaat. Doch das wäre dann wie im Märchen.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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