Katastropheneinsätze:Harte Jungs für schwere Fälle

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Bei Unfällen wie dem S-Bahn-Unglück von Schäftlarn sind Fachleute und schweres Gerät gefordert. (Foto: Uwe Lein/dpa)

Irakli West ist mit seiner Firma Heavy Rescue weltweit bei Unglücken wie Erdrutschen, Überschwemmungen oder Zugunfällen wie in Schäftlarn im Einsatz. Möglichst schon, bevor es überhaupt dazu kommt.

Von Bernhard Lohr, Haar

Wer Irakli West zum ersten Mal in seinem Büro begegnet, denkt sich unweigerlich: Dieser Mann ist der Richtige für die schweren Jobs. Einen Laster anheben - kein Problem. Einen Zug wieder aufs Gleis setzen - wird gemacht. Irakli West ist der Chef von "Heavy Rescue", einer Firma, auf dessen Logo ein Schwerlastkran prangt, und der selbst aussieht wie ein bärenstarker Wikinger. Tatsächlich hat er dänische Wurzeln.

Irakli West, Chef der Firma Heavy Rescue. (Foto: Claus Schunk)

Die Verbundenheit zur Heimat seines Vaters demonstriert der 53-Jährige mit einem Tattoo am Arm: eine Rune aus dem Grab von König Blauzahns Vater, dem berühmten Wikinger aus dem 10. Jahrhundert. Doch der Eindruck täuscht. Denn mit einem Kraftprotz oder Berserker hat der Fachmann für Rettungseinsätze mit tonnenschwerem Gerät nichts gemein. Er ist vielmehr ein Netzwerker, ein akribischer Tüftler und Problemlöser mit Fingerspitzengefühl, der auch mal aus tiefster Überzeugung ein trockenes Fachbuch schreibt.

Bei dem Einsatz in Schäftlarn waren West und seine Männer nicht dabei. "Das ist schon gut gemanagt worden", sagt der Firmenchef

Erst wenige Tage liegt das Zugunglück in Schäftlarn zurück, bei dem zwei S-Bahnen frontal aufeinander krachten. Ein Mensch verlor sein Leben, viele wurden verletzt. Erst Tage später wird begonnen, mit großem Gerät die tonnenschweren Triebwagen zu bergen. Irakli West hat damit nichts zu tun. Er ist in der Regel bei solchen Einsätzen nicht dabei. "Das ist schon gut gemanagt worden", sagt er in seinem Büro nahe dem Haarer Bahnhof, "der Kran der Berufsfeuerwehr München war da".

Die Profis von den Feuerwehren "retten, löschen, bergen" ihrer Losung zufolge. Irakli West dagegen hat eine Firma, die sich darum kümmert, dass die Retter mit dem richtigen Gerät ausgestattet sind. Er sitzt am PC, entwickelt Rettungssysteme, hält Vorträge mit Titeln wie "Gewaltsame Türöffnung" oder "Gebäudeeinsturz akut". Sein Standardwerk über "Tiefbauunfälle" hat der renommierte Kohlhammer-Verlag herausgebracht.

Ein schwerer Kesselwagen hat ein Auto zerdrückt. Feuerwehrleute müssen jetzt das Fahrzeug bergen. Irakli West hat das richtige Material dafür und das Know-how. (Foto: Repro: Claus Schunk)

Zum Rettungswesen ist Irakli West, dessen Vorname übrigens auf seine aus Georgien stammende Mutter zurückgeht ("das ist dort ein Name wie hier Thomas"), über seinen Ersatzdienst beim Katastrophenschutz gekommen. West studierte in London Video-Graphie und probierte manches aus, bis er wieder zurück in Haar zu seiner Leidenschaft zurückkehrte, die Marke "Heavy Rescue" eintragen ließ und die FWnetz GmbH gründete. Heute ist er bei der Freiwilligen Feuerwehr Haar aktiv und beim Technischen Hilfswerk in Günding. In mehreren weiteren Ehrenämtern und beruflich ist er in Sachen Rettung viel unterwegs. Sei es eine Tagung in Santiago di Chile oder eine Schulung in Polen, in Unterföhring oder Garching. Seine Firma hat vier Festangestellte und acht freie Schulungskräfte. Zwei Transporter und fünf weitere Fahrzeuge tragen sein Firmenlogo. Ein Kran ist nicht dabei. Die Schulungen laufen an Geräten der Feuerwehren selbst.

Das Wissen in den USA sei viel Größer, so der aktive Feuerwehrmann, der auch für ein UN-Projekt arbeitet

Angefangen hat Irakli Wests Business mit dem Vertrieb von hydraulisch oder pneumatisch angetriebenen Hebestützen einer US-Firma, mit der sich ganze Güterwaggons in die Höhe liften lassen. Rettungskräfte in ganz Deutschland waren und sind seine Kunden. West merkte, dass gerade im Bereich der Tiefbauunfälle, wenn also ein Arbeiter in einer Baugrube verschüttet ist, das Wissen in den USA viel größer ist als hierzulande. 2009 fing er daher an, Fortbildungen anzubieten. Parallel engagiert er sich in der Organisation @Fire, einer international vernetzten Katastrophenschutz-Vereinigung. Über diese wirkt Irakli West in der von den Vereinten Nationen aufgestellten "International Search and Rescue Advisory Group (Insarag) mit, die weltweit gültige Standards erarbeitet, damit bei großen Unglücken die Retter aus aller Welt miteinander klarkommen. "Wir sprechen alle die gleiche Sprache und verwenden die gleichen Materialien", sagt West.

Es gibt fast nichts, was "Heavy Rescue" nicht heben kann. Es kommt auf das richtige Werkzeug an. (Foto: Repro: Claus Schunk)

Bei einem Treffen in der Hauptstadt von Chile erreichte ausgerechnet West vom Heavy-Team, dass 2020 so genannte Light-Teams als wichtige Einheiten in die Guide-Lines mit aufgenommen wurden. Dabei geht es um eine Gruppe von Leuten, die etwa mit geländegängigen Fahrzeugen bei großflächigen Katastrophen wie der Überschwemmung im Ahrtal Erkundungsarbeit leisten. Er selbst war so im Ahrtal unterwegs und fertigte auch mit Hilfe von Drohnen Kartenmaterial über Orte an, zu denen noch keiner vordringen konnte. Das ist eines seiner neuen Themen: West will, dass Einsatzleitungen schnell aktuelle Karten vorliegen haben. Soeben erst, sagt er, habe er einen Karten-Prototypen ausgedruckt. "Management, Search, Rescue, Medicine, Logistics" - das sei der Fünfklang, den West zufolge die Light-Teams abdecken sollen. Einen Schritt in diese Richtung sieht Irakli West im Landkreis Dachau, wo eine sogenannte Dispo-Gruppe eingerichtet worden ist, die in etwa diese Aufgabe übernimmt und die er sich für jeden Landkreis wünschen würde.

Irakli West ist viel unterwegs. Ein fester Bürojob wäre nichts für ihn, sagt der Mann mit dem grauen Vollbart. Jährlich sei er in den USA, wo er sich zum Trench-Rescue-Specialisten hat ausbilden lassen, der höchsten Sachverständigen-Stufe für Tiefbaurettung. Das "höchste der Gefühle" sei für ihn, bald in den USA wieder beim Training "im Modder rumzukriechen". Toll sei es auch vor Jahren auf einem Schrottplatz in Norwegen gewesen. "Da gab es kaputte Lastwagen zum Spielen." In Wirklichkeit spielt Irakli West wenig. Bei ihm geht um koordiniertes, wohl überlegtes Handeln und auch um Leben und Tod. Er trainiert mit Rettungskräften etwa in Unterföhring an der Übungseinheit für Tiefbauunfälle oder ist in Garching-Hochbrück bei der Rettungshundestaffel der dortigen Feuerwehr. Gerade bauen die Garchinger mit West für Übungszwecke ein nach einer Gasexplosion eingestürztes Haus nach, in dem die Hunde nach Verschütteten suchen und West seine Hydraulikstützen einsetzen und sein Wissen auf den Prüfstand stellt.

Gefährlich wird es auch für die Retter, wenn Sandmassen abrutschen und jemanden zu verschütten drohen. (Foto: Repro: Claus Schunk)

Den Ernst eines Einsatzes kennt West auch. Im Mai 2019 wurde er nach Rettenbach bei Landsberg am Lech gerufen, wo bei einer Gasexplosion ein Haus eingestürzt war. Ein Vater war mit seinem Kind verschüttet. Es gab trotz intensiver Suche mit Geophon und Endoskop keine Lebenszeichen. Und irgendwann gab West als hinzugezogener Fachberater das Zeichen, dass nichts mehr zu machen sei. "Es ist auch wichtig, wenn man bestätigen kann, dass keiner mehr lebt." Erst dann, sagt er, könne man beginnen, die Trümmer wegzuräumen. Davor könnten Verschüttete gefährdet werden, wenn mit Baggern gearbeitet werde, die möglicherweise Erschütterungen auslösen. Irakli West war mit dem @Fire-Team auch 2010 beim Erdbeben in Haiti, 2014 bei der Überschwemmungskatastrophe in Bosnien-Herzegowina und 2015 beim Erdbeben in Nepal - und eben 2021 eine Woche im Ahrtal.

Das Denken von West kreist um die Frage, wie Rettungseinsätze besser gestaltet werden können. Soeben hat er ein Patent angemeldet, das irgendwann einmal ein Kind retten könnte, das in einer Kiesgrube von tonnenschwerem Sand verschüttet worden ist. Mit Hilfe des "Schüttgut-Rettungskastens" sollen sich Retter sicher zu einem Opfer graben können, ohne dass Material nachrutschen kann. Auch ein Job für ganze Männer.

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