Neben dem Portal des Hildebrandhauses, in dem die Monacensia, das Literaturarchiv der Stadt, residiert, ist eine Gedenktafel angebracht. Der Kopf einer jungen Frau ist zu sehen, verhaltenes Lächeln, und dazu eine Inschrift: "Die Schriftstellerin Elisabeth Braun erwarb 1934 das Hildebrandhaus. Sie zog im November 1938 hier ein, wo ihre Stiefmutter Rosa Braun bereits seit vier Jahren wohnte. Die Nationalsozialisten enteigneten Elisabeth Braun 1941, verschleppten sie nach Kaunas/Litauen und ermordeten sie am 25. November 1941 wegen ihrer jüdischen Herkunft. Seit 1937 nahm Elisabeth Braun 15 verfolgte Menschen jüdischer Herkunft in das Hildebrandhaus auf. Sie wurden ebenfalls ermordet oder nahmen sich das Leben."
Dies ist die Kurzversion einer Geschichte, die den Leidensweg einer mutigen Frau schildert und dabei exemplarisch dokumentiert, wie der NS-Staat Raub und Mord als amtlichen Vorgang betrieb. Der systematischen Ausplünderung folgte die systematische Vernichtung. Der Schauplatz des Verbrechens ist eine der schönsten Münchner Künstlervillen, das Hildebrandhaus am Bogenhausener Isarhochufer, das Elisabeth Braun am 25. September 1934 für 62 280 Mark gekauft hat.
Zu dieser Zeit waren bereits dunkle Wolken über München aufgezogen, Hitler war seit eineinhalb Jahren an der Macht, die Terrormaschinerie der Nazis war längst angelaufen. Gegner des Regimes wie Thomas Mann, dessen Villa, die "Poschi", ein paar hundert Meter isarabwärts vom Hildebrandhaus stand, waren ins Exil geflüchtet, andere hofften noch, dass die Nazi-Herrschaft zusammenbrechen würde. Vielleicht auch Elisabeth Braun - aber sicher weiß man das nicht.
Überhaupt ist das Bild, das sich vom Leben dieser Frau zeichnen lässt, reichlich verschwommen. Private Hinterlassenschaften gibt es so gut wie gar nicht, fast alles, was ihren Lebensweg dokumentiert, steht auf Formularen, welche die NS-Behörden angefertigt haben. Selbstredend sind dies schmutzige Quellen, deren Natur man im Auge behalten muss, wenn es gilt, das damalige Geschehen zu rekonstruieren. Dass es mehr zu erzählen gibt, als biografische Eckdaten, ist nicht zuletzt ein Verdienst von Christiane Kuller und Maximilian Schreiber. Die beiden Historiker haben in Akten und Archiven gewühlt und das Ergebnis ihrer Forschung in ihrem Buch "Das Hildebrandhaus" publiziert.
Elisabeth Braun wurde im Juli 1887 in München geboren. Franziska und Julius Braun, ihre Eltern, waren Juden, der Vater hatte ein florierendes Schneideratelier in der Theatinerstraße. Er entstammte einer alteingesessenen Münchner Kaufmannsfamilie, die es sich leisten konnte, ein Eckhaus in bester Innenstadtlage zu erwerben. Seine Tochter Elisabeth begann im Wintersemester 1913/14 ein Philosophie- und Staatswissenschaftenstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität, das sie einige Male unterbrach und 1925 beendete.
Der familiäre Wohlstand versetzte sie offenbar in die Lage, auf einen Brotberuf fürs Erste zu verzichten. Im Wintersemester 1931/32 immatrikulierte sie sich erneut, diesmal wählte sie Jura als Studienfach. Nebenher besuchte sie eine Privatschule und absolvierte ein Lehrerexamen für neuere Sprachen. Als Lehrerin, so vermuten Kuller und Schreiber, hat sie jedoch nie gearbeitet. Als ihren Beruf gab sie Schriftstellerin an, literarische Texte aus ihrer Feder sind bislang aber nicht aufgetaucht. Denkbar wäre, dass sie in der NS-Zeit unter Pseudonym publiziert hat.
Ob sie sich mit religiösen Themen beschäftigt hat? Die Vermutung liegt nahe, der Glaube hat sie offenkundig beschäftigt. 1920 verließ Elisabeth Braun, zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt, die israelitische Kultusgemeinde und trat der evangelisch-lutherischen Kirche bei. Warum sie diesen Schritt unternahm, ist nicht überliefert. Kuller und Schreiber vermuten, "dass ihr der Übertritt eine Herzensangelegenheit war und sie sich aus echter Glaubensüberzeugung taufen ließ". Dafür spricht, dass sie ihr Vermögen testamentarisch der evangelischen Kirche vermacht hat.
Für die Nazis hatte die christliche Taufe einer Jüdin nichts zu bedeuten. Als Jude, so die perfide Logik ihrer rassistischen Ideologie, wird man geboren, und man bleibt es auch dann, wenn man sich zum Christentum bekennt - mit der Folge, im NS-Staat existenziell bedroht zu sein. Angesichts des unverhohlenen Antisemitismus der Nationalsozialisten erscheint es auf den ersten Blick befremdlich, dass Elisabeth Braun im Herbst 1934 ein Haus kaufte. Offenbar, so darf man schließen, fühlte sie sich in München und in Deutschland noch immer sicher.
Wer dies heute, mit dem Wissen um den Holocaust, für naiv hält, verkennt, dass sich meisten Zeitgenossen noch gar nicht vorstellen konnten, welche mörderischen Konsequenzen der Antisemitismus haben würde. Darauf weisen auch Christiane Kuller und Maximilian Schreiber in ihrem Buch hin: "Gerade diejenigen, die von der Verfolgung betroffen waren, hofften auf schnelle Änderung der politischen Situation. Viele meinten, die Nationalsozialisten würden nicht lange an der Macht bleiben. Nur wenige hatten das Gefühl der Panik oder auch nur der Dringlichkeit."
Einer, der ahnte, welche Folgen die NS-Diktatur haben würde, war Dietrich von Hildebrand. Er war der Sohn des Bildhauers Adolf von Hildebrand (1847-1921), der 1890 den Auftrag erhalten hatte, den Wittelsbacher Brunnen am heutigen Lenbachplatz zu gestalten. Weil daran die Bedingung geknüpft war, nach München zu ziehen, verlegte er seinen Wohnsitz von Florenz an die Isar, wo er sich ein repräsentatives Wohn- und Atelierhaus in der Maria-Theresia-Straße errichten ließ. Um die Jahrhundertwende unterhielten die Hildebrands hier einen Salon, in dem sie Philosophen, Schriftsteller, Musiker und Künstler empfingen.
Diese Tradition einer geistigen Begegnungsstätte setzte Dietrich von Hildebrand nach dem Tod seine Vaters fort. Hildebrand junior war außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie an der Münchner Universität - und er hatte schon frühzeitig den aufkeimenden Nationalsozialismus attackiert. Als die Nazis an die Macht kamen, sah er sich im März 1933 gezwungen zu fliehen - zunächst nach Florenz und schließlich, nach vielen Zwischenstationen, in die USA. Eineinhalb Jahre nach der Flucht verkauften er und seine Schwester Irene die Bogenhausener Villa an Elisabeth Braun.
Die Käuferin quartierte sich zunächst nicht im Hildebrandhaus ein, sie blieb für weitere vier Jahre in Tegernsee, wo sie seit den Zwanzigerjahren ihren Wohnsitz hatte. Stattdessen bezog ihre Stiefmutter Rosa Braun eine Sechszimmerwohnung in der Künstlervilla.
Im September 1935 wurden die "Nürnberger Gesetze" verkündet, die den NS-Rassismus juristisch institutionalisierten. Nach deren Definition galt Elisabeth Braun als "Volljüdin". Nun begann sie, ihre Emigration vorzubereiten. Sie knüpfte Kontakte zu Verwandten im Ausland, später beantragte sie für sich und ihre Stiefmutter die Ausreise in die USA. Und schließlich, im November 1938, kehrte sie von Tegernsee zurück nach München und zog ins Hildebrandhaus ein, vermutlich in der Hoffnung, noch ausreisen zu dürfen. Doch alle Bemühungen, dem NS-Regime zu entfliehen, scheiterten.
In der Villa an der Maria-Theresia-Straße wohnte mittlerweile auch Charlotte Carney, eine Lehrerin, die seit 1933 Berufsverbot hatte, weil sie aus einer jüdischen Familie stammte. Sie war wie Braun der evangelischen Kirche beigetreten. Im Laufe der Zeit quartierte die Hausherrin weitere von den Nazis verfolgte Menschen bei sich ein: Helene Sulzbacher, die Opernsängerin Käthe Singer, den pensionierten Lehrer Heinemann Edelstein und dessen Frau Jeanette, die Gesangslehrerin Valerie Theumann, die Modistin Lilly Rosenthal, den Textilkaufmann Victor Behrend, Franziska und Simon Schmikler sowie deren Tochter Maria, Getti Neumann, Albert und Sophie Marx und schließlich Klara Rosenfeld. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren alle, denen Elisabeth Braun Unterschlupf bot, Opfer der nationalsozialistischen Wohnungspolitik, die zum Ziel hatte, Juden zu separieren. Man hatte keine Scheu, "nicht arische Mieter" aus ihrer Wohnung zu vertreiben.
Eine alleinstehende Frau, "Volljüdin", mit Immobilienbesitz - es konnte nicht ausbleiben, dass die Gier der Nazis geweckt wurde. Die zwangsweise Enteignung der Juden firmierte im NS-Staat unter dem Begriff "Arisierung". Der Terminus war unmissverständlich: Jüdisches Eigentum sollte in "arische" Hände gelangen. Eines der Instrumente war die "Judenvermögensabgabe", eine Art Sondersteuer für Juden. Am 4. November 1939 forderte das Finanzamt München Elisabeth Braun auf, unverzüglich 45 250 Reichsmark "Judenvermögensabgabe" zu zahlen. Dazu war sie nicht in der Lage, weshalb sie eine Sicherungshypothek für die Villa zugunsten des Finanzamts aufnehmen musste. Ihre finanzielle Lage wurde immer prekärer.
Ein noch schlimmerer Gegner war die "Arisierungsstelle", die laut Buchautoren "ein lokales Zentrum des nationalsozialistischen Terrors" war. Es versteht sich, dass die "Arisierungsstelle" ihre Fänge auch nach dem Hildebrandhaus und Brauns Haus in der Theatinerstraße ausstreckte. Der erste Versuch, die Eigentümerin zu einem Verkauf weit unter dem Wert zu zwingen, scheiterte, nachdem Elisabeth Braun Beschwerde eingelegt hatte und damit erfolgreich war. Allerdings legte man ihr nahe, die Immobilie "freihändig" zu veräußern. Die Lage verschärfte sich, als im August 1940 beide Häuser unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Ein Jahr später erhielten Elisabeth Braun und ihre Stiefmutter erneut ein Schreiben der "Arisierungsstelle": "Nachdem Ihre Wohnung für einen arischen Mieter benötigt wird, werden Sie hiermit zum 16.8.1941 entmietet."
Der ultimative Brief bedeutete nichts anderes, als dass die beiden Frauen nun vor dem Abgrund standen. Um nicht auf der Straße stehen zu müssen, erklärte sich Elisabeth Braun zum Verkauf des Anwesens in der Theatinerstraße unter der Bedingung bereit, das Hildebrandhaus behalten und auch weiterhin dort wohnen zu dürfen. Hans Wegner, der Leiter der "Arisierungsstelle", akzeptierte das Angebot sofort. Braun verkaufte das Haus in der Theatinerstraße unter Wert für 220 000 Reichsmark. Von dem Geld hatte sie nichts. Einen Teil kassierte das Finanzamt, der Rest floss auf ein Sicherungskonto.
Nach wenigen Wochen stellte sich heraus, dass die "Arisierungsstelle" gar nicht daran dachte, die Abmachung einzuhalten. Am 8. August 1941 wurde Elisabeth Braun aus ihrer Villa geholt und im Gefängnis Stadelheim inhaftiert. Ein paar Tage später räumte ein Möbelspediteur ihre Wohnung aus. Rosa Braun, die Stiefmutter, zwangen die Nazis, in eine "Heimanlage für Münchner Juden" in Berg am Laim zu ziehen. Dorthin brachte man dann auch Elisabeth Braun. Die übrigen jüdischen Bewohner des Hildebrandhauses wurden ebenfalls deportiert.
Danach, der genaue Zeitpunkt ist unbekannt, verschleppte man Braun in das Barackenlager Milbertshofen an der Knorrstraße. Die 18 Baracken waren auf Befehl des Gauleiters Adolf Wagner von "jüdischen Hilfskräften", also Zwangsarbeitern, errichtet worden. Im November '41 erhielt Braun eine Verfügung der Münchner Gestapoleitstelle, derzufolge ihr gesamtes Vermögen "wegen volks- und staatsfeindlicher Bestrebungen" eingezogen wird.
Am 20. November 1941 startet vom Güterbahnhof an der Riesenfeldstraße ein Zug, in den die SS und andere Nazischergen 998 jüdische Frauen, Männer und Kinder gepfercht haben. Auf der Deportationsliste steht unter der Nummer 975 der Name Elisabeth Brauns. Auch einige ihrer Schützlinge aus dem Hildebrandhaus sind darauf verzeichnet. Nach dreitägiger Fahrt erreicht der überfüllte Deportationszug die Stadt Kaunas in Litauen. Zwei Tage nach der Ankunft werden die Verschleppten von einem Einsatzkommando erschossen.
Unter den Opfern ist auch Elisabeth Braun. Lilly Rosenthal, Käthe Singer sowie Franziska und Maria Schmikler sterben ebenfalls im Kugelhagel der Maschinengewehre. Getti Neumann hat sich bereits in München das Leben genommen, auch Simon Schmikler starb vermutlich von eigener Hand. Die anderen "nicht arischen" Bewohner des Hildebrandhauses werden in den folgenden Monaten ermordet. Keiner hat das mörderische NS-Regime überlebt.
Christiane Kuller, Maximilian Schreiber: Das Hildebrandhaus. Allitera Verlag, Edition Monacensia.