Wohnungsnot im Landkreis:Eine Frage der Perspektive

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Seit vier Jahren lebt Marina Ruvio in einer Einzimmerwohnung in Zolling auf 23 Quadratmetern und mit zwei Kindern. "Es geht gar nicht mehr, es ist so eng hier, alles explodiert", sagt sie. (Foto: Marco Einfeldt)

Sozialwohnungen sind knapp. Einige Berechtigte hängen seit Jahren in Obdachlosenunterkünften fest und kritisieren das Vorgehen der Stadt Freising. Man leite das "in juristisch korrekte Bahnen", entgegnet das zuständige Referat.

Von Thilo Schröder, Freising

Als das Amt für Soziales, Wohnen und Obdachlosenhilfe zuletzt den Wohnungsvergabebericht 2020 präsentiert hat, ging es viel um Statistiken, Richtlinien und Prognosen. Was fehlte, waren die Schicksale dahinter. Geschichten wie die von Janina Huber (Name geändert), Nadine Janicek, Jennifer Brobatovci und ihren Familien, die seit Jahren in einer Obdachlosenunterkunft leben, ohne Aussicht auf eine Sozialwohnung. Geschichten wie die von Marina Ruvio, die den Absprung zwar geschafft hat, nun aber mit zwei Kindern in einer Einzimmerwohnung verzweifelt.

Die Freisinger SZ hat mit ihnen gesprochen. Außerdem mit der zuständigen Referatsleiterin der Stadt Freising sowie zwei Stadträten. Sie wollen wahrgenommene Probleme anpacken, haben dennoch eine völlig andere Sicht als die Betroffenen.

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Kommentar von Thilo Schröder

Familien werden teils in kleinere Wohnungen umgesetzt, um Platz für WGs zu schaffen

Jennifer Brobatovci arbeitet in einem Echinger Lokal, ist gerade in Kurzarbeit. Sie wohnt seit zehn Jahren in der Unteren Isarau in einer Obdachlosenunterkunft. Mit drei ihrer fünf Kinder - 19, 16 und neun Jahre alt - lebt sie in einer Vierzimmerwohnung. Der älteste Sohn absolviert eine Lehre am Flughafen. Ende März müsse sie in eine Dreizimmerwohnung umziehen, sagt die 41-Jährige, denn aus größeren Wohnungen wolle die Stadt künftig Wohngemeinschaften bilden.

Die Stadt bestätigt, dass zwei Familien innerhalb der Unteren Isarau in kleinere Wohnungen "umgesetzt werden". Beide hätten hohe Mietschulden, die man nicht in die Höhe treiben wolle; bei einer Familie falle zudem ein volljähriges Kind mit eigenem Einkommen aus dem Bedarf heraus. Auch den Umbau größerer Unterkünfte zu WGs bestätigt die Stadt. Grund seien erwartete Räumungswellen und dadurch Wohnungslose in der Corona-Krise.

Alles sei voller Schimmel, kritisiert Nadine Janicek, die in einer Unterkunft in der Unteren Isarau wohnt. (Foto: privat)

Sie habe "keine Mietschulden", betont dagegen Brobatovci. Seit sie in der Unteren Isarau lebe, habe sie nur "einen einzigen Wohnungsvorschlag" für eine Sozialwohnung bekommen, sagt sie weiter: 2015 am Plantagenweg, am anderen Ende der Stadt. Ihre Jüngste sei da gerade vier Jahre alt gewesen. "Ich war voll berufstätig und auf Hilfe bei der Betreuung aus meinem Umfeld angewiesen, das wäre nicht zu managen gewesen", sagt die Alleinerziehende. "Hätte ich das Angebot heute bekommen, wäre das etwas Anderes."

Das betreffende Haus sei damals nicht saniert gewesen, "unter aller Würde". Inzwischen sei dort renoviert worden. Nein, zu hohe Ansprüche habe sie keine, betont Brobatovci. Sie wolle nur noch weg. Ihr Bad sei "komplett verschimmelt", manche Wände wellten sich auf, Türstöcke fielen fast heraus. "Nachdem man hier gelebt hat, hat man keine so hohen Ansprüche mehr."

Alles sei voller Schimmel, kritisiert eine Bewohnerin der Unterkunft in der Unteren Isarau

Einer ihrer älteren Söhne lebte vor zwei Jahren noch samt seiner Freundin Nadine Janicek und einjährigen Zwillingen bei ihr. Vor einem Jahr, so schildert Janicek, habe die Familie eine eigene Unterkunft in der Unteren Isarau zugewiesen bekommen, eine Zweizimmerwohnung. Mittlerweile haben sie ein drittes Kind. Schimmel habe es in der Unterkunft bereits beim Einzug gegeben, sagt die 23-Jährige, aber nur wenig. "Vorübergehend" sei die Unterbringung, habe man ihr zugesichert, sagt Janicek.

Inzwischen sei "alles voller Schimmel", ein Kind huste nachts, mutmaßlich in Folge des Befalls. Vor einem halben Jahr habe sie einen Wohnungsantrag gestellt, derweil seien im Haus Dreizimmerwohnungen frei, für die sie aber kein Angebot bekäme. Gegen den Befall habe es nur Tipps für richtiges Lüften und Schimmelentferner gegeben, entrüstet sie sich. Sucht sie derweil selbst nach einer Wohnung? "Mein Freund ist angestellt am Flughafen, ich bekomme Kinder- und Elterngeld", sagt Janicek. "700 bis 800 Euro Miete wären für uns möglich, eine Wohnung außerhalb können wir uns damit nicht leisten. Ich habe außerdem einen schlechten Schufa-Eintrag, das schreckt Vermieter ab." Auch Janicek bestreitet, hohe Ansprüche zu haben. "Ich weiß: Das ist eine Obdachlosenunterkunft, das soll hier nicht wunderschön sein. Aber manches passt einfach gar nicht."

Die Stadt rechnet damit, dass sie bald noch mehr Menschen in den Obdachlosenunterkünften in der Unteren Isarau unterbringen muss. (Foto: Marco Einfeldt)

Auch Janina Huber wohnt in der Unteren Isarau, seit zehn Jahren. "Bislang habe ich keine Sozialwohnung angeboten bekommen", sagt die 44-Jährige. Sie lebt in einer Dreizimmerwohnung mit ihren beiden Kindern, 16 und 20 Jahre alt, das ältere absolviert eine Ausbildung. Sie leide an einer chronischen Lungenerkrankung, sei seit zwei Jahren krankgeschrieben, sagt Huber. Ende 2019 sei ein Reha-Aufenthalt geplant gewesen, doch dann: die Aussicht auf eine Sozialwohnung. Am Ende klappte es nicht, auf einen Reha-Termin wartet sie bis heute. "Ich hatte immer noch die Hoffnung, eine Sozialwohnung zu bekommen."

Seitens der Stadt habe es geheißen, sie solle sich auf dem privaten Mietmarkt umschauen. "Wovon soll ich die Miete bezahlen?", fragt Huber. "Momentan bekommen wir gar keine Leistungen, weil sich keiner zuständig fühlt." Überdies, dass man die Berechtigung für eine Sozialwohnung jährlich neu beantragen muss, habe den Unterkunftsbewohnern bis zum vergangenen Jahr niemand mitgeteilt, behauptet Huber. Für die seither zuständige Amtsleiterin für Soziales, Wohnen und Obdachlosenhilfe findet Huber keine netten Worte. Was sie tue, sei "unmenschlich". Es gebe einen Druck, auszuziehen. "Wenn die Stadt wüsste, was hier los ist ..."

Im Jahr 2020 bekamen 256 berechtigte Haushalte in Freising keine Sozialwohnung

Hanna Sammüller-Gradl dürfte ungefähr wissen, was los ist. Seit einem Jahr ist auch sie im Amt, leitet das übergeordnete Referat für Bürgerdienste und Rechtsangelegenheiten der Stadt Freising. Sie sagt, auf einen zuletzt veränderten Umgang mit Unterkunftsbewohnern angesprochen: "Wir leiten das in juristisch korrekte Bahnen." Entsprechende Maßnahmen würden über ein Büro vor Ort, eine Beratungsstelle und von den Sozialarbeitern der Caritas kommuniziert.

2020 hat die Stadt laut Wohnungsvergabebericht 57 Sozialwohnungen neu vergeben, 256 berechtigte Haushalte bekamen hingegen keine Wohnung. Im Besitz der Stadt seien 100 Sozialwohnungen, so Sammüller-Gradl; insgesamt gebe es 1162, größtenteils im Eigentum von Bauträgern wie der Freisinger Wohnbau (FWB), "für die die Stadt ein Vorschlagsrecht hat".

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Im Aufsichtsrat der FWB wiederum sitzen die Stadträtin Monika Schwind (FSM) und ihr SPD-Kollege Peter Warlimont. Die Stadt tue viel für den sozialen Wohnungsbau, sagen beide. Man könne aber nicht alle Bauprojekte gleichzeitig abwickeln, "das muss ja auch kostengünstig sein und ökologische Standards erfüllen", sagt Schwind. Und man wolle einen gewissen Standard bieten. Beispiel: die geplante Nachverdichtung an der Johann-Braun-Straße. Dort soll von 64 auf 82 Sozialwohnungen aufgestockt werden. "Es gab auch einen Entwurf mit über 100 Wohnungen, aber da hätte ich nicht drin wohnen wollen, man muss sich ja darin wohlfühlen."

Nicht höhere Auflagen seien entscheidend, sagt Warlimont, sondern die hohen Bodenpreise, um Grundstücke für Sozialwohnungen zu erwerben. "Wenn man so viel bezahlen muss, kann man das nur leisten, wenn man Verluste macht. Der vorherige Besitzer verdient sich daran dumm und dämlich, bezahlen tut das der Steuerzahler, und die Kommunen bleiben drauf sitzen." Mit ihrem "Masterplan Bezahlbares Wohnen bis 2035" will die Stadtrats-SPD darum Zielmarken für einen verstärkten sozialen Wohnungsbau setzen, den Bau von Werkswohnungen ankurbeln und der Bodenspekulation entgegenwirken.

Höhere Auflagen und steigende Bodenpreise erschweren den Erwerb günstiger Grundstücke für Sozialwohnungen

Auf die Situation langjähriger Bewohner der Obdachlosenunterkünfte angesprochen, sagt Warlimont: "Teils gibt es da Klientel, das richtet sich in allem ein. Da wird jede angebotene Hilfe, die eine Bewegung ihrerseits erfordert, umschifft und sich lieber mit einer schlechteren Situation arrangiert. Das ist oft wahnsinnig schwer."

Stadtjuristin Hanna Sammüller-Gradl wiederum sagt: "Obdachlosenunterkünfte sind keine Sozialwohnungen, die sind auf eine kurzfristige Unterbringung ausgelegt." Wie es dennoch zu langfristigen Aufenthalten kommt, könne sie nach einem Jahr im Amt nicht sagen. Sie fügt hinzu: "In Sozialwohnungen sind die Leute eigentlich immer besser dran." Gemeint ist damit etwa das Ausbleiben von Verlängerungsfristen, Sozialwohnungen seien dagegen oft kleiner als die vorherigen Unterkünfte.

Auch bei ihr sei überall Schimmel in der Unterkunft, kritisiert Jennifer Brobatovci. (Foto: privat)

Eine zu kleine Unterkunft hat Marina Ruvio. Die 30-Jährige hat früher in der Unteren Isarau gewohnt. Seit vier Jahren lebt sie in einer Einzimmerwohnung in Zolling: auf 23 Quadratmetern und mit zwei Kindern (acht und fünf Jahre alt), von denen eines an ADHS leidet, wie sie sagt. "Es geht gar nicht mehr, es ist so eng hier, alles explodiert." Die Zollinger Behörden hätten ihr sinngemäß gesagt: "Anderen geht es noch schlechter. Kommen Sie wieder, wenn Sie mit einer Räumungsklage und gepackten Koffern vor der Tür stehen."

Für sie der blanke Hohn. Als Arbeitssuchende könne sie sich keine größere Mietwohnung leisten, sagt Ruvio, denn die Preise lägen über den Vorgaben des Jobcenters. Zudem drohe der Vermieter, ihr wegen Eigenbedarfs zu kündigen. Ihre Mutter Monika Staller lebt wie der Rest der Familie in Freising. Die 58-Jährige würde gerne ihre Dreizimmer- mit einer leer stehenden Zweizimmerwohnung tauschen, damit die Tochter einziehen kann. Doch aus dem Freisinger Wohnungsamt verlaute: Man könne Marina Ruvio keine Wohnung geben, sie lebe ja inzwischen in Zolling.

© SZ vom 05.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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