Freiwilliger Verzicht:Wo die Seele Nahrung bekommt

FREISING: Spendenübergabe des Suffizienzkreises an Acker e.V. - Ökologische Gartenanlage Freising-Vötting

Carolin Flinker und Christian Lorenz bei der Arbeit in ihrer ökologischen Gartenanlage in Vötting.

(Foto: Johannes Simon)

Mitten im Corona-Lockdown haben Carolin Flinker und Christian Lorenz den "Suffizienzkreis Freising" gegründet. Sie propagieren ein Leben in Genügsamkeit und ohne Verschwendungssucht.

Von Thilo Schröder, Freising

Eine "Oase", einen "Gemüsepark" oder auch einen "Lebensraum, wo die Seele Nahrung bekommt", nennen Carolin Flinker und Christian Lorenz ihre Ökologische Gartenanlage in Vötting. 38 Parzellen erstrecken sich hier auf 7000 Quadratmetern. Wer das Ehepaar auf dem von Büschen, Bäumen und dem Mühlenangergraben eingefassten Gelände besucht, taucht ein in ein artenreiches Biotop. Stauden und Sträucher, kleine Ackerflächen und Hochbeete, eine Streuobstwiese im Aufbau und Blühstreifen reihen sich aneinander. Man kann sich vorstellen, wie hier im Sommer die Insekten umherschwirren.

Die Anlage wirkt teilweise bewusst verwildert, aus so manchem gelagerten Holzstapel wachsen bunte Blumen hervor. Insgesamt scheint sie aber gepflegt. Zäune gibt es keine, man liegt im Überschwemmungsgebiet. Noch jetzt, Mitte Oktober, wachsen in den Beeten Rotkohl, Zucchini, Lauch, Sellerie, Mais und vieles mehr. Genug Gemüse, um sich selbstversorgen zu können. Lässt man das Kleinod auf sich wirken, bekommt man einen Eindruck davon, was es heißt, genügsam zu sein.

Genau darum geht es dem Ehepaar Flinker und Lorenz. Der 58-jährige Lorenz ist seit 20 Jahren Pächter einer der Parzellen und arbeitete lange als Umweltschutztechniker. Flinker, 55, leitet in Freising eine Yogaschule. Seit zehn Jahren betreiben beide die Öko-Gartenanlage, die es wiederum seit über 30 Jahren gibt. Anfang des Jahres, mitten im Corona-Lockdown, haben sie den "Suffizienzkreis Freising" gegründet und bis dato über 30 Menschen aus ihrem Umfeld und Bekanntenkreis dafür gewinnen können, wie sie sagen.

Hinterfragen, ob Dinge sein müssen

Suffizienz oder Genügsamkeit reiht sich als Konzept ein in andere Nachhaltigkeitstrends. Ein suffizienter Lebensstil erhebt den Anspruch, mehr als "nur" effizient im Umgang mit Ressourcen zu sein. Es geht dabei nicht darum, ein Ziel möglichst ressourcenschonend zu erreichen. Sondern darum, zu hinterfragen, ob ein Ziel überhaupt angestrebt werden muss. Entlang von Suffizienz wird beispielsweise argumentiert, dass mittels eines weniger ertragreichen Biolandbaus durchaus ausreichend Lebensmittel produziert werden können.

Vorausgesetzt, diese werden global sinnvoll verteilt und die Menschen verzehren weniger tierische Produkte. Es gehe darum, was es für ein gutes Leben wirklich brauche - und was nicht, sagen Flinker und Lorenz. "Wenn man sich damit beschäftigt, verfliegt der Drang nach viel Konsum." Suffizienz als eine Art positiver Verzicht basiert auf freiwilliger Einsicht, nicht auf Zwang.

Reparatur statt Neuerwerb

Flinker, Lorenz und einige ihrer Mitstreiter haben auf diese Weise innerhalb weniger Monate 2200 Euro gesammelt. Eingespart durch nicht gekaufte Konsumgüter, durch Reparatur statt Neuerwerb, durch Tauschgeschäfte oder vorausschauend verwertete Lebensmittel. Eine Hälfte des Geldes spendeten sie vor der Bundestagswahl an Fridays for Future. Die andere Hälfte geht jetzt an das Bildungsprogramm "GemüseAckerdemie" des Vereins Acker e.V. Dieser setzt sich bundesweit für eine höhere Wertschätzung von Natur und Lebensmitteln ein und entwickelt dafür innovative, praxisorientierte Konzepte.

Bei der GemüseAckerdemie bauen Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Lehrkräften eigenes Gemüse an und werden so zu Nachhaltigkeitsprofis. Teilnehmen an dem Programm kann prinzipiell jede Schule. Lehrkräfte werden dafür geschult, einen Großteil der Kosten übernehmen Ministerien, Stiftungen und Unternehmen. Mehr als 630 Schulen im deutschsprachigen Raum nehmen laut Acker e.V. teil. In Freising allerdings noch keine. Lorenz und Flinker wollen das ändern und sind überzeugt, auf offene Ohren zu stoßen. "Wir sind guten Mutes."

Bewusstseinsveränderung anstreben

Ziel des Suffizienzkreises sei es, künftig ein Projekt im Jahr mit eingesparten Spenden zu unterstützen, sagt Flinker. Das sei aber letztlich ein "Nebeneffekt", so Lorenz. Wichtig ist dem Ehepaar eine "Bewusstseinsveränderung" in der Gesellschaft. "Wir brauchen wirklich einen Systemwechsel", sagt Christian Lorenz. Ein grenzenloses Wirtschaftswachstum angesichts einer begrenzten Biosphäre zu forcieren, das passe doch nicht zusammen. Selbst nachhaltiges Wachstum widerspreche dem. Carolin Flinker und Christian Lorenz sind dagegen fasziniert von dem Gedanken einer Postwachstumsökonomie mit einem reduzierten Konsumniveau, wie sie etwa der Ökonom Niko Paech postuliert.

Belehren wollen sie dabei jedoch nicht, betonen sie. "Das erzeugt nur Abwehr", meint Lorenz. "Man kann nur einladen", ergänzt Flinker. Wer länger mit dem Paar spricht, nimmt indes eine starke Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen wahr. Aus denen sie sich selbst nicht rausnehmen. Da ist die Rede von einer "dekadenten Sattheit", davon, dass viele sich ökologisch ernährten, um dann in den Urlaub zu fliegen. Auch sie selbst verbringen einen Teil des Winters jedes Jahr in Südeuropa, wollen das aber künftig zumindest seltener tun, wie sie sagen.

Bewusst am Laden vorbeigehen

Für Carolin Flinker wichtig ist der Aspekt der Scham, der Menschen antreibe, immer neue Dinge besitzen zu wollen, einen materiellen Standard zu halten. Man könne sich dabei fragen: "Inwieweit brauche ich Dinge wirklich, um mich zugehörig zu fühlen?" Vor kurzem habe sie mal wieder etwas gekauft, das sie eigentlich gar nicht benötige. Der nächste Schritt sei nun, im Voraus zu reflektieren und dann bewusst am Laden vorbeizugehen.

Christian Lorenz sagt, mit Verweis auf einen überbordenden Konsum hierzulande: "Viele wissen gar nicht, wie privilegiert wir sind." Es reiche aber nicht, bei der Suche nach Verantwortlichen nur auf Konzerne zu zeigen und deren CO₂-Ausstoß anzuprangern. Ein eigenes verändertes Handeln habe sofort einen Effekt. "Da regelt das in dem Fall sogar der Markt, wenn die Nachfrage bei bestimmten Produkten zurückgeht." Einen Anstoß dafür kann auch ein Besuch in der Ökologischen Gartenanlage in Vötting geben. "Wenn man hier sitzt und mal zwei Stunden nix macht, kommt man ganz schön ins Grübeln", sagt Lorenz. Das Gelände steht dafür allen offen.

Wer beim Suffizienzkreis selber einsteigen will, meldet sich einfach bei Carolin Flinker unter carolin@flinker.de. Infos zur GemüseAckerdemie gibt es unter www.acker.co

Zur SZ-Startseite
Carolin Stanzl

SZ PlusFoodsaver
:"Ich gehe kaum einkaufen, manchmal gar nicht"

Weil Carolin Stanzl nicht mehr mit ansehen konnte, wie viele Lebensmittel täglich verschwendet werden, ließ sie sich zur Foodsaverin ausbilden - und erklärt nun anderen, wie man es schafft, weniger Essen wegzuwerfen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: