SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 138:Diagnose: Heimweh

Lesezeit: 2 min

Manchmal, gerade bei Kindern im Krankenhaus, ist die Sehnsucht nach der vertrauten Umgebung zu Hause so groß, dass sie krank macht. (Foto: Bernd Leitner/IMAGO)

Immer wieder muss sich ein sehr junger Patient von Pola Gülberg übergeben. Doch eigentlich müsste es dem Jungen schon viel besser gehen. Ist die Ursache vielleicht gar keine körperliche?

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Eigentlich hätte es unserem jungen Patienten - er war gerade mal im Teenager-Alter - schon viel besser gehen müssen. Er kam als Notfall mit einem Milzriss. Das ist extrem gefährlich, denn Betroffene können dabei verbluten. Er wurde operiert, später folgte eine Nachsorge-OP. Nach Eingriffen am Bauch sollten sich die Organe ausruhen, also beginnen wir langsam: Erst Wasser, dann Suppe, später Brei und allmählich kann das Essen wieder fester werden. Diese Vorgehensweise befolgten wir auch dieses Mal. Doch der Junge klagte immer wieder über Übelkeit, die steigerte sich über den Tag hinweg bis er sich schließlich erbrechen musste.

Mehrmals hat er Schmerzmittel und etwas gegen Übelkeit bekommen. Er nahm viel zu wenig zu sich im Vergleich zu seinem Übelkeitsniveau - in einer Nacht erbrach er ganze drei Liter. Auch ein erneuter Ultraschall, bei dem mögliche Komplikationen wie ein verdrehter Darm zu sehen gewesen wären, ergab keine neuen Erkenntnisse. Er bekam Abführmittel - etwas, das man gerade bei recht jungen Menschen so lange es geht, vermeidet. Wir versuchten, es dem Jungen so angenehm wie möglich zu machen, denn auch das Drumherum hätte möglicherweise seine Übelkeit erklären können. Das gibt's doch nicht, dachte ich mir damals. Was war da nur los?

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Als ich ihn an einem Morgen, nachdem er eine gute Woche bei uns war, das Frühstück brachte, da sagte er zu mir: "Pola, heute esse ich alles auf!" Ich war irritiert, denn das wäre gar nicht notwendig gewesen. Das sagte ich ihm auch: Lieber sollte er einfach so viel essen, wie er eben schafft.

Eine halbe Semmel später begann der Junge fürchterlich zu weinen. Es war so ergreifend, dass es mir bis tief unter die Haut ging. Ich setzte mich zu ihm und umarmte ihn so gut es ging. Als er wieder sprechen konnte, offenbarte er mir, dass er unglaublich Heimweh hatte. Deshalb habe er aufessen wollen, damit er endlich nach Hause kann. Seine Eltern waren zwar jeden Tag fast immerzu bei ihm, aber eine körperliche Nähe war durch die ganzen Kabel, Schläuche und Schmerzen schwierig. Vor allem seinen kleinen Bruder wollte der Junge mal wieder so richtig umarmen. Stattdessen plagte ihn ein schlechtes Gewissen - "ne, ich hab' jetzt keine Zeit für dich", das hätte er viel zu oft zu ihm gesagt.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Auf einmal fragte er mich: "Kann es sein, dass mir deshalb immer so schlecht ist, weil ich Heimweh habe?" Ja, das konnte gut sein. Hospitalismus nennt sich das: Wenn Menschen lange in Kliniken oder in Heimen sind, wenn sie dort Vernachlässigung oder Reizunterflutung erfahren, wenn ihnen physischer Kontakt fehlt, dann kann sich das in körperlichen, emotionalen oder sozialen Symptomen äußern. Gerade bei Kindern tritt das häufig auf.

Das Weinen hat dem Jungen gutgetan, als ob eine Last von ihm abgefallen ist - manchmal müssen Problemen erst einen Namen bekommen, damit es bergauf gehen kann. Wir gingen dann wieder spazieren, diesmal schafften wir es bis zur Terrasse. Am Nachmittag konnten wir ihn schließlich auf Normalstation verlegen.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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