Traditionelle Wirtshäuser:Saustall mit Kegelbahn

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Maria Lugmair wurde nach Kriegsende in der Tanderner Wirtschaft geboren. Nicht nur die Kindheitserinnerungen der heute 75-Jährigen, auch ihre Familiengeschichte und viele Anekdoten aus dem Dorfleben hängen an dem mehr als 150 Jahre alten Haus im idyllischen Hügelland hinter Dachau

Von Benjamin Emonts

Noch heute ist das Wirtshaus in Betrieb, doch Menschen kommen dort nicht mehr zur Welt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

An den alten Eiskeller im Tanderner Wirtshaus kann sich Maria Lugmair noch gut erinnern, weil er für die Kinder unheimlich war. Der Weg führte mit einer Kerze über eine enge, steile Steintreppe in die Tiefe, es war düster und modrig. Öffnete sie unten die Türe, so ergab sich jedoch ein schmackhafter Anblick. Im Keller lagerten Fleisch, Bierfässer und Holzkisten mit allererlei Würsten. Das zerkleinerte Eis, erinnert sich Lugmair, wurde jeden Winter aus dem Weiher neben dem Tanderner Schloss geschlagen und von fünf Rossfuhrwerken angekarrt. Es hielt sich das gesamte Jahr.

Im Wirtshaus geboren: Maria Lugmair, 75. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Lugmair, 75, hat etliche solcher Erinnerungen, sie sprudeln nur so aus ihr heraus. Die Geschichte des heutigen "Gasthauses Schloss Tandern" ist zu weiten Teilen schließlich auch die ihrer Familie. Die Eltern und Großeltern verdienten mit dem Wirtshaus ihr Geld. Genau wie ihre Mutter und ihre zwei älteren Brüder wurde Lugmair in der heutigen Küche des Gasthauses geboren, die bei Kriegsende noch ein geräumiges Schlafzimmer war. Sie selbst hat in dem Gasthaus ihr halbes Leben geschuftet, als Kind trocknete sie das Geschirr, als junge Frau begann sie zu kochen, zu bedienen und zu kassieren. Auch die beiden Weltkriege vermochten den Familienbetrieb nicht zu zerstören. Die Erlebnisse in dem Wirtshaus haben das Leben von Maria Lugmair über Jahrzehnte geprägt.

Von 1910 bis 1938 haben die Rinauers das Wirtshaus geführt. Repro: Niels P. Jørgensen (Foto: N/A)

Das Dorf Tandern liegt idyllisch zwischen Wiesen, Hügeln und Wäldern im nördlichen Landkreis Dachau, rund 15 Kilometer von Aichach entfernt. Es gibt hier ein Schloss, eine Kirche, eine sagenumwobene Pestkapelle und vereinzelte Höfe. Der Regisseur Marcus H. Rosenmüller, darauf ist sind sie im Dorf stolz, hat in Tandern seine bekannten Filme "Beste Zeit", "Beste Gegend" und "Beste Chance" spielen lassen. Die Drehbücher hat die in Tandern aufgewachsene Karin Michalke geschrieben.

Das Wirtshaus in dem 1300-Seelen-Dorf wurde 1867 erbaut, es gehörte anfangs einem Mann namens Kneißl, der große Ländereien und ein Sägewerk besaß. Maria Lugmair aber beginnt ihre Geschichte mit ihren Großeltern, Rosina und Michael Rinauer, über die sie im Ort immer noch sprechen. Die Erinnerungen an Wirtshäuser sind ja meistens jene an besondere Menschen. In Tandern sagen sie deshalb immer noch: "Geh ma zum Rinauer?" Wobei sie das "I" nur kurz sprechen.

In die frisch sanierte Stube des Gasthauses hat Maria Lugmair ein altes Familienalbum mit Schwarz-Weiß-Bildern ihrer Großeltern mitgebracht. Sie beide verband eine innige Liebesbeziehung, erzählt sie. In einem Hotel in Seeshaupt hatten sie sich kennen und lieben gelernt, die Großmutter war damals Schankkellnerin, worauf sie großen Wert legte, und der Großvater Metzgermeister. Ein Cousin vermittelte sie an den Baron Freiherr von Beck-Peccoz, den Besitzer des Schlossguts Kühbach, dessen Brauerei das Wirtshaus bis heute mit Bier beliefert. Der Adelige hatte das Gasthaus in Tandern gekauft. 1910 bekamen die Rinauers das Anwesen zur Pacht. Es gehörten ein Saustall, ein Schlachthaus, 36 Tagwerk Landwirtschaft und eine Kegelbahn dazu. Trotz zweier Mägde hatte die neue Wirtsfamilie alle Hände voll zu tun.

Die Großmutter Rosina Rinauer war eine stolze, stattliche Frau. Auf dem Foto vom Jahre 1932 sieht man sie lächeln, ihre Haare hat sie zu einem Knoten hoch gebunden, was damals unüblich war. "Die Großmutter war anders", sagt Lugmair. Dass die Dorfbewohner sie einfach duzten, habe ihr nicht gepasst, obwohl sie durchaus "leutselig" war und manchen Stammkunden wie den Postboten gar am Totenbett besuchte. Womöglich war sie in Seeshaupt oder ihrem Geburtsort Starnberg einen feineren Ton gewohnt als auf dem Dachauer Land. Lugmair jedenfalls sagt: "Meiner Großmutter fiel es schwer, sich einzugewöhnen."

Rosina und Michael Rinauer posieren im Jahr 1932 mit dem Postboten auf der Treppe vor dem Tanderner Wirtshaus. Repro: Niels P. Jørgensen (Foto: N/A)

Dennoch betrieben die Rinauers das Wirtshaus fast drei Jahrzehnte bis 1938, kurz vor Kriegsbeginn. Dann übernahmen Lugmairs Eltern. Xaver Ostermair, ein in Tandern geborener Bauer, musste nicht zum Militär, weil er bei Holzarbeiten ein Auge verloren hatte. Die Mutter, Maria, war im Wirtshaus aufgewachsen und hatte stets dort gearbeitet. Für beide war es naheliegend, das Wirtshaus zu übernehmen. Vor Ausbruch des Kriegs kochte die Mutter entgegen ihrer politischen Gesinnung für die Hitlerjugend, die sich oben im Saal mit bis zu 80 Personen versammelte. Zwar gab es damals seltener Fleisch im Gasthaus, doch aus Erzählungen weiß Lugmair, dass die Jungen aus der Hitlerjugend Rucksäcke voller Pfifferlinge aus den umliegenden Wäldern schleppten, die die Mutter dann zubereitete. Als die Amerikaner Tandern am 28. April 1945 befreiten, war Lugmair 14 Tage alt. Die Soldaten, so erzählte es die Großmutter, hatten sich in der Stube breit gemacht und Stockbetten aufgestellt, das Schlafzimmer mussten die Eltern räumen. Aus Angst ging die Mutter drei Tage lang mit der Tochter zu den Klosterschwestern ins benachbarte Heim für schwer erziehbare Mädchen, das im heutigen Schloss Tandern eingerichtet war. Als sie merkten, dass man ihnen nichts Böses wollte, kehrten sie wieder zurück.

Im großen Saal im Obergeschoss wurden in der Nachkriegszeit wochenlang Flüchtlinge, etwa aus dem Sudetenland, untergebracht. Es lebten teilweise 80 bis 100 Personen, darunter ganze Familien, auf engstem Raum. Die Mangelzeit nach dem Krieg überstand die Wirtsfamilie jedoch gut, auch wenn es öfter Mehlspeisen gab. "Ich habe nie Not gelitten", sagt Lugmair.

Serie als Digitaldossier

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(Foto: Mach, Marco)

Wirtshäuser sind Orte der Begegnung. Hier geht die Liebe durch den Magen, im Hinterzimmer werden politische Volten ausgekartelt und am Stammtisch das Weltgeschehen verhandelt. Ein bayerisches Wirtshaus ist aber meist auch ein Ort mit Geschichte und voller Geschichten. Davon erzählt die SZ-Serie "Prost Mahlzeit - Traditionelle Wirtshäuser in München und Umland", inklusive kulinarischer Empfehlungen und Ausflugstipps. Die ersten Folgen gibt es jetzt gebündelt als Dossier, Anfang September wird es fortgeschrieben. Erhältlich ist die Sonderausgabe im digitalen Kiosk der SZ oder unter sz.de/mahlzeit.

Das Wirtshaus blieb mehr als 60 Jahre in Familienpacht. Jahrelang half Lugmair den Eltern, morgens um fünf melkte sie die Kühe und bis sieben hatte sie den Dreck vom Vorabend entfernt. An die Stammkunden wie den Postboten, die Großbauern oder den im Dorf allseits beliebten Pfarrer Anton Mayr, die jeden Abend Bier tranken und Schafkopf spielten, erinnern sie sich im Dorf gern zurück. Und schließlich waren da noch die Fußballer. Schon vor dem Krieg war das Gasthaus auch das Vereinsheim des 1932 gegründeten FC Tandern. Vor den Spielen zogen sich die Burschen am Schlachthaus um und wuschen sich hernach im Hof. "Nach den Spielen war immer die Hölle los", sagt Lugmair und erzählt von rauschenden Tanzabenden und Sportlerbällen. "Wir hatten zwar sehr viel Arbeit, aber auch ein gutes Geschäft."

Maria Lugmair heiratete im Alter von 20 Jahren einen Mechaniker aus Tandern und bekam drei Töchter. Die Familie gab das Gasthaus 1973 auf, sie selbst wollte es nicht übernehmen. Es folgten zahlreiche Pächterwechsel, bis der inzwischen verstorbene Tanderner Spediteur Hans Altmann das Schloss und das Wirtshaus kaufte. Jahrelang stand das Traditionshaus inmitten der Ortschaft leer, bis es vor einigen Jahren aufwendig saniert wurde. Die alte Wirtsstube mutet nun modern an. Maria Lugmair kommt mit ihrer Familie regelmäßig zum Essen, meistens bestellt sie Schnitzel. Es wird in jenem Zimmer zubereitet, in dem sie am Kriegsende 1945 geboren wurde.

© SZ vom 05.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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