Post vom Kultusminister:"Dieser Brief wird als blanker Hohn gesehen"

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Pensionierte Lehrer aus dem Landkreis Dachau werden gebeten, den Schuldienst wieder anzutreten - obwohl sie zur Risikogruppe gehören. Auch Verstorbene wurden angeschrieben.

Von Franziska Langhammer und Julia Putzger, Dachau

Das Schreiben beginnt schmeichelnd. Jahrelanger Einsatz und Engagement werden gelobt, die menschliche und pädagogische Arbeit. Doch dann kommt der bayerische Kultusminister Michael Piazolo (FW) zum Punkt: Mit einem dringenden Anliegen möchte er an die Adressaten des Briefes herantreten, an pensionierte Lehrer, die in den vergangenen fünf Jahren in den Ruhestand getreten sind. Auch pensionierte Lehrer aus dem Landkreis Dachau haben den Brief erhalten. "Sofern nicht gegengesteuert wird, fehlen (...) zum kommenden Schuljahr circa 1400 Vollzeitkräfte", vor allem an den bayerischen Grund-, Mittel- und Förderschulen, heißt es in dem siebenseitigen Dokument, das auch der SZ Dachau vorliegt.

Weil man nicht im großen Stil auf pädagogisch ungeschulte Seiteneinsteiger zurückgreifen wolle, schreibt Piazolo weiter, sollten die erfahrenen Lehrkräfte im Ruhestand bitte über eine Rückkehr in den Schuldienst nachdenken. Der Brief ist Teil der "Maßnahmen zur Sicherung der Unterrichtsversorgung", die im Januar vom Kultusministerium veröffentlicht wurden. Pensionierte Pädagogen also sollen zurückkommen ans Pult und so dem Lehrermangel entgegenwirken? Es handle sich hier um "eine Kombination aus verschiedenen dienstrechtlichen Maßnahmen und freiwilligen Beiträgen der Lehrkräfte", heißt es vom Kultusministerium, "die sich jeweils ergänzen und nicht gegenseitig ersetzen."

"Diesen Brief in Zeiten von Corona zu verschicken, widerspricht jeglichem Feingefühl"

Beim Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) löst das Anschreiben Empörung aus. "Ich finde diesen Aufruf etwas makaber in einer Zeit, in der Menschen ab 60 als Risikogruppe gelten", sagt Gerd Nitschke, oberbayerischer Vorsitzender des BLLV. "Wir haben uns absolut dagegen ausgesprochen, Pensionisten zurück in die Schule zu holen." In einer Pressemitteilung schreibt der BLLV: "Diesen Brief in Zeiten von Corona zu verschicken, widerspricht jeglichem Feingefühl und wird von den Betroffenen als blanker Hohn angesehen." Das Kultusministerium räumt auf SZ-Nachfrage ein: "Ein möglicher Einsatz im Schuldienst muss - abhängig vom Infektionsgeschehen zum Beginn des Schuljahres 20/21 - selbstverständlich unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes erfolgen." Ob die pensionierten Lehrkräfte dem Ruf des Staates folgen, müssen sie aber trotzdem bis spätestens 10. Mai entscheiden, steht in dem Schreiben.

Der Lehrermangel war schon vor der Coronakrise abzusehen, nun verschärft sich die Situation an den Schulen deutlich. Da beispielsweise Schwangere nicht mehr arbeiten dürfen, fallen mindestens 30 Lehrkräfte im Landkreis Dachau weg, schätzt die Dachauer BLLV-Kreisvorsitzende Beate Rexhäuser. Sie ist Lehrerin an der Grund- und Mittelschule Erdweg. Auch die Kollegen, die 60 und älter sind, sollen voraussichtlich erst einmal vom Unterricht befreit sein; das betreffe im Landkreis ungefähr einen bis zwei Lehrer pro Schule. "Insgesamt hat sich unsere Alterspyramide zum Glück schon ziemlich umgedreht, wir haben sehr viele junge Lehrer", sagt Rexhäuser. Die 62-Jährige sagt aber: "Ich lasse meine Schüler nicht hängen." Ab Montag beginne sie mit ihrer neunten Klasse die Vorbereitung auf die Englisch-Qualifikationsprüfungen.

Im Landkreis Dachau sei man im Herbst 2019 personaltechnisch gut aufgestellt gewesen, erzählt Rexhäuser. Dann aber sei "sukzessive immer mehr weggebröselt", bis die sogenannte mobile Reserve schließlich gar nicht mehr verfügbar war. Die Schulen müssen Ausfälle von Lehrkräften dann in Eigenregie kompensieren. "Das geschieht dann zu Lasten der Lehrer und der Unterrichtsqualität." Albert Sikora, Leiter des Dachauer Schulamts, stellt klar, dass es im Landkreis zwar keinen Lehrermangel gebe, da der vorschriftsmäßige Unterricht gut abgedeckt werden könne, "aber Bedarf haben wir immer." Das gelte besonders für besondere Lernangebote wie Arbeitsgemeinschaften. Auf den Brief gab es laut Kultusministerium schon positive Reaktionen: "Erste Rückmeldungen zeigen, dass es einige Lehrkräfte gibt, die hieran Interesse haben." Auch Gerd Nitschke vom BLLV Oberbayern erklärt, dass sich immer wieder pensionierte Kollegen zum Schuldienst melden, etwa, um Kinder von Geflüchteten zu unterrichten. Gleichzeitig habe es schon rund 30 massive Beschwerden seitens pensionierter Lehrer gegeben.

Im Landkreis Dachau waren die Rückmeldungen jedoch eher verhalten: Eine Rückmeldung habe er erhalten, erzählt Schulamtsleiter Sikora - und selbst das sei keine fixe Zusage sondern nur ein erstes Gespräch. Die Zurückhaltung kann er jedoch gut verstehen: "Die Lehrer hatten sicher einen guten Grund, warum sie in den Ruhestand oder in den vorzeitigen Ruhestand gegangen sind und haben auch eine Vorstellung davon, wie sie ihre Zeit verbringen möchten." Er hält die Initiative des Kultusministeriums für ein "probates Mittel", besonders erfolgversprechend sei sie aber - auch ohne die unglückliche Überschneidung mit der Coronakrise - nie gewesen. Insgesamt schätzt Sikora, dass rund 100 Lehrkräfte im Landkreis das Schreiben aus dem Kultusministerium erhielten, denn jedes Jahr gingen etwa 20 der rund 1000 Lehrkräfte im Landkreis in den Ruhestand.

Viele Lehrer müssen jetzt länger arbeiten

Da die pensionierten Lehrer nur etwa sechs bis acht Stunden arbeiten dürfen, um den steuerlichen Freibetrag nicht zu überschreiten, könne deren Arbeit nur eine Unterstützung sein, so Nitschke, und keinesfalls den Lehrermangel ausgleichen. Es handle sich um eine Notmaßnahme, die einem selbstgemachten Problem entgegensteuern soll. "Sobald Kinder auf die Welt kommen, weiß man ungefähr, wann sie in die Schule kommen." Außerdem hat das Kultusministerium weitere Schritte gegen den Lehrermangel in die Wege geleitet; beispielsweise wurde der Numerus Clausus für das Lehramt Grundschule aufgehoben. Laut Nitschke längst überfällig: "Bisher waren immer nur 1200 Studierende zugelassen."

Der BLLV-Vorsitzende plädiert dafür, mehr Flexibilität zwischen den Schulformen zu schaffen. Im Gegensatz zu den Grund- und Mittelschulen gibt es an Gymnasien zu viele Lehrkräfte. Eine weitere Maßnahme aus dem Katalog des Kultusministeriums verbietet es künftig Lehrern, schon vor dem 65. Lebensjahr den Schuldienst zu quittieren. "Viele Kollegen, die in den Ruhestand gehen wollten, müssen jetzt doch länger arbeiten", sagt Nitschke. So hatte beispielsweise auch Beate Rexhäuser ursprünglich geplant, in eineinhalb Jahren in den Vorruhestand zu gehen. Nun muss die 62-jährige jedoch an der Grund- und Mittelschule Erdweg arbeiten, bis sie 65 Jahre alt ist. In München gibt es für solche Fälle eine medizinische Anlaufstelle, in der die Beamten auf ihre Dienstfähigkeit hin untersucht werden. Wegen der Coronakrise liegt jedoch auch dort derzeit alles brach. Viele ältere Kollegen müssten also weiterhin um ihren geplanten Ruhestand bangen, so Nitschke.

Wenn auf Grund der Coronakrise weniger Lehrer unterrichten können, kommt auf die anderen voraussichtlich noch mehr Arbeit zu: Die wöchentliche Arbeitszeit von Grundschullehrern beispielsweise soll laut Kultusministerium um eine Stunde erhöht werden. Diese zusätzliche Unterrichtsstunde wird via Arbeitszeitkonto angespart und soll später wieder ausgeglichen werden. Dabei ist die derzeitige Situation für viele Lehrer extrem belastend. "Online-Unterricht ist nicht weniger anstrengend als der normale", so Nitschke. Außerdem habe der BLLV Rückmeldungen von Lehrern bekommen, die derzeit die Notbetreuung in den Schulen aufrecht erhalten und dabei eine Maske tragen müssen. "Nach einer Stunde sind viele erschöpft. Das Sprechen und Atmen durch die Maske ist viel anstrengender, man bekommt nur schlecht Luft." Auch die Klassenplanung für das kommende Schuljahr gestaltet sich schwierig: Ob ein Kind eingeschult wird oder nicht, wird nur nach Aktenlage entschieden. Und so lässt es sich derzeit nur schlecht abschätzen, wie viele Lehrkräfte wirklich fehlen werden. Eines aber kann man mit Sicherheit sagen: Es wird eng.

Auch die Herangehensweise des Kultusministeriums sorgt für Ärger. Nicht nur pensionierte Lehrer wurden angeschrieben, sondern auch längst verstorbene bekamen einen Brief. "So etwas darf nicht passieren", sagt Nitschke. "Die Datenlage ist bekannt, ein Toter bekommt keine Pension mehr überwiesen." Der BLLV hat einige Rückmeldungen von Angehörigen der verstorbenen Lehrkräfte bekommen, die bestürzt sind. "Mein Vater war Lehrer und ist vor drei Jahren verstorben", heißt es etwa in einer E-Mail. "Man kann nur hoffen, dass das nicht reihenweise passiert."

© SZ vom 24.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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