Ballettfestwoche 2024:Ein Fest für den Tanz

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Tanz wird weit gedacht in den theatralen Stücken der flämischen Compagnie "Peeping Tom". Im Dreiteiler "Triptych" gehen die Akteure an ihre physischen Grenzen - und ein Schiff versinkt. (Foto: Maarten Vanden Abeele/Peeping Tom)

Mensch-Pilz-Wesen, Androiden, Horror auf einem Ozeandampfer: Das Bayerische Staatsballett präsentiert bei seinem April-Festival neben Repertoire-Highlights auch München-Premieren - und eine Uraufführung.

Von Jutta Czeguhn

Was haben Sharon Eyal und Heidi Klum gemeinsam? Gott, nahezu nichts. Abgesehen davon, dass die große israelische Tanzkreateurin wohl sehr fashionaffin ist. Legende: ihr verwischter Lippenstift-Mund und der Post-it-breite Lidschatten. Und es gibt auch ein schönes Video von ihr, in dem sie für eine Dior-Luxustasche wirbt. Doch auch in ihrer Tanzsprache finden sich jede Menge Trend-Zitate, von Bewegungsmustern der Techno-Raver etwa bis zum Voguing, jenen aus dem queeren Underground stammenden Laufsteg-Posen, in denen sich auch Klums Model-Kandidaten üben. Bei der anstehenden Ballettfestwoche vom 12. bis zum 20. April jedenfalls wird man all das in Eyals Stück wiedererkennen. Das eigentlich Spannende aber: Wer die Ausdauer hat, sich dieses Festival des Bayerischen Staatsballetts komplett einzuverleiben, kann eine starke Raum-Zeit-Erfahrung machen; eine Tour mit vielen Abzweigungen durch die Geschichte des Tanzes vom 19. Jahrhundert bis heute - oder gar morgen. Aktuelle Repertoire-Stücke, München-Premieren und eine Uraufführung sind zu erleben.

Der weiße Tod

In "White Darkness" verarbeitet der spanische Choreograf Nacho Duato, hier eine Aufnahme der Compania Nacional de Danza, den Drogentod seiner Schwester. (Foto: Alba Muriel)

Letztere gibt es gleich zur Eröffnung des Tanzfestes am 12. April beim Triple-Bill-Abend. Drei Choreografen, drei Stücke, kurz, jedes nur 30 Minuten lang. Mit einem Thema, das alles zusammenhält? Serge Honegger, Dramaturg am Staatsballett, spricht lieber von "losen Verwandtschaftsverhältnissen", denn es soll um Weltflucht gehen, ein Topos, in dem ja wirklich alles Mögliche Platz hat. Drogen zum Beispiel: Aus dem Jahr 2001 stammt Nacho Duatos "White Darkness", gewidmet hat es der Spanier seiner an der Sucht gestorbenen Schwester. Zu schnellen, traurigen Streicherklängen von Karl Jenkins umkreisen sich hier hochnervöse Paare. Der Dealer lässt das weiße Pulver rieseln. Versprechungen, zerstörte Hoffnungen.

Symbiose mit Pilzen

Rituale einer neuen Spezies: Das Ensemble des Staatsballetts (hier bei der Einführungsmatinee) in Andrew Skeels "Chasm", das bei der Ballettfestwoche seine Welturaufführung hat. (Foto: Marie-Laure Briane)

Zumindest akustisch rieselt es auch im zweiten Stück des Abends, der Weltpremiere: Irgendwie nach Sand klinge, so Honegger, die Musik, die Antoine Seychal für "Chasm" geschrieben hat. Man könnte sich an den Science-Fiction-Film "Dune" erinnert fühlen, der aktuell in den Kinos läuft. Denn die Choreografie, die der Kanadier Andrew Skeels mit dem Ensemble des Bayerischen Staatsballetts erarbeitet hat, führt in eine ferne Zukunft, 100 000 Jahre sind seit heute vergangen. Eine menschenähnliche Spezies - ihre Knochenstruktur hat sich nach außen entwickelt und sie steht in einer irgendwie gearteten Symbiose mit einer Pilzstruktur - verlässt ihre Höhle (Klimawandel!). Hat die Gemeinschaft eine Überlebenschance? Skeels, der von geometrischen Strukturen und Pilzgeflechten fasziniert ist, liebt das Theatralische. Ein Hausdebüt für ihn in München.

In der Automatenwelt

Das Staatsballett bei den Proben zu Sharon Eyals "Autodance". (Foto: Marie-Laure Briane)

Den letzten Teil des Triple-Abends liefern Sharon Eyal und ihr Partner Gai Behari mit "Autodance", einem Stück aus dem Jahr 2018. Laut Serge Honegger hat sich die Münchner Compagnie sehr auf diese Choreografie gefreut. Im Winter 2020 waren die Tänzerinnen und Tänzer für den dreiteiligen Ballettabend "Paradigma" beim Einstudieren von "Bedroom Folk" zum ersten Mal mit Eyals besonderer Tanzsprache in Kontakt gekommen - und ihren Trainingsmethoden (damals in der Bubble). Keine Spiegel bei den Proben, dafür viel "Gaga". Diese improvisierten Körpererkundungen hat sich Ohad Naharin für seine Batsheva Dance Company in Tel Aviv ausgedacht, bei der auch Sharon Eyal groß wurde. "Bedroom Folk", das war für das klassisch trainierte Staatsballett Herausforderung, Erweckungserlebnis und viel Spaß: Super präziser, fast mathematischer, dabei animalisch bedrohlicher Nonstop-Gruppentanz, abrupte Richtungswechsel. Physisch und mental ungeheuer herausfordernd wird nun auch Autodance, natürlich zu den Eyal-typischen Elektrobeats von Ori Lichtik. Auf halber Spitze - wie auf High Heels - stelzt ein androgyner Schwarm über die Bühne, Millisekunden-synchron. Doch da sind auch Ausbruchsversuche. Gibt es noch Individuen in dieser Automatenwelt? Oder sind es fehlprogrammierte Androide?

Horror und Slapstick

Albtraumhafte Zustände auf einem Schiff: Akteure der flämischen Compagnie "Peeping Tom". (Foto: Maarten Vanden Abeele/Peeping Tom)

Und noch ein Triptychon bei dieser Ballettwoche. Das Gastspiel (16. und 17. April) der belgischen Compagnie "Peeping Tom" könnte zum Höhepunkt des Tanzfestivals werden, gilt das Kollektiv, das auf der ganzen Welt tourt, doch als eines der freakigsten der Branche. Zuletzt waren die Flamen 2015 in München zu sehen, in einer Kooperation mit dem Resi im Cuvilliés-Theater. Der Name "Peeping Tom", so nennt man im Englischen männliche Voyeure = Spanner, deutet schon an, dass hier Grenzen ausgelotet und womöglich überschritten werden. Dass es um unerfüllte Begierden, um Psychopathen-Hirne und albtraumhafte Zustände gehen könnte. "Triptych" setzt sich aus den drei Teilen "The Missing Door", "The Lost Room" und "The Hidden Floor" zusammen. Ein surreales, labyrinthisches, stets instabiles Setting also - Serge Honegger nennt es "kafkaesk" -, das zudem auf einen Ozeandampfer spielt, Entkommen also ausgeschlossen. "Peeping Tom" reisen stets mit einer enorm aufwendigen Bühnenmaschinerie und eigenen Technikern an. Bei den Umbauten darf das Publikum zusehen, sie sind Teil der Show, die bei allen feinen Horror-Ingredienzien laut Dramaturg auch mit viel Slapstick gewürzt sein wird. Beste Voraussetzungen für einen guten, verstörenden Theater-Thriller. Und der Tanz? Wo bleibt der Tanz? Das Publikum wird hier enorm Artistisches sehen, Tänzerinnen und Tänzer, die hohe körperliche Risiken eingehen. Das eigene Staatsballett, so Honegger, hätte man dem nicht aussetzen können.

Traurige Liebende

Für sie gibt es kein Happy Ending: Tatjana (Madison Young) und Onegin (Jakob Feyferlik) bei der Wiederaufnahme im Januar. (Foto: Nicholas MacKay)

Natürlich ist die Ballettfestwoche immer auch eine Leistungsschau der Münchner Compagnie, die zuletzt mit der Wiederaufnahme von John Crankos "Onegin" großartige Rollendebüts präsentierte. So überzeugend wurde da getanzt, dass selbst Cranko-Gralshüter und -Coach Reid Anderson, der angereist war, in Verzückung geraten sein soll. Am 13. April kann man nun also noch einmal miterleben, wie sich in Jürgen Roses prächtiger Bühnenausstattung Onegin und Tatjana am Ende nicht bekommen. Wunderschön traurig, dieses Ballettdrama, nach Puschkin, zur Musik von Tschaikowski, arrangiert von Kurt-Heinz Stolze.

Hamlet & Co

Shale Wagman, Anfang des Jahres noch verletzungsgeplagt, wird wieder in den "Tschaikowski-Ouvertüren" zu sehen sein. (Foto: Nicholas MacKay)

Ob der Kanadier Shale Wagman in dieser Spielzeit im "Onegin" in der Titelrolle oder als Lenski noch zum Zug kommt? Eine Verletzung hatte sein Rollendebüt im Januar verhindert. In jedem Fall aber wird er beim Ballettfest wieder mit seinem Solo in der "Elegie" aus der Bühnenmusik zu "Hamlet" in Alexei Ratmanskys "Tschaikowski-Ouvertüren" bezaubern (18. April). Das Werk des russisch-ukrainischen Choreografen, Uraufführung war im Dezember 2022, steht, wie stets bei Ratmansky, fest auf klassischem Fundament und sucht von dort aus Linien in die Gegenwart. Hamlet, Prospero und der Luftgeist Ariel im "Sturm", Romeo und Julia, diesen Shakespeare-Figuren begegnet man hier in zerbrechliche Reflexionen, als Verheißungen auf ihre unsterblichen Geschichten.

Gefährliche Pfauentänze

Der berühmte "fliegende Kuss" aus dem Ballett "Le Parc": Madison Young und Julian MacKay zeigen ihn am 19. April. (Foto: Nicholas MacKay)

Große literarische Werke und große Musik sind auch der Resonanzraum für Angelin Preljocajs Ballett "Le Parc": Choderlos de Laclos' "Gefährliche Liebschaften" etwa und Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonaten. Münchens Ballettdirektor Laurent Hilaire hatte als Danseur étoile bei der Uraufführung 1994 an der Pariser Oper die männliche Hauptrolle getanzt und konnte nun Preljocajs eigenwillige Bewegungssprache aus barock-höfischem Pfauengebalze und Tourette-Syndrom-artigen Armzuckungen an eine neue Generation weitergeben. Highlight ist sicher das Pas de Deux mit dem ikonischen "Flying Kiss" von Madison Young und Julian MacKay, das die beiden nicht nur bei der München-Premiere, sondern auch als Gaststars beim vergangenen Prix de Lausanne 2024 präsentiert haben. Wieder zu bewundern nun auch bei der Ballettfestwoche am 19. April im Nationaltheater.

Runderneuerter Tempeltanz

"Acte des ombres", der berühmte "Schattenakt" aus "La Bayadère". (Foto: Katja Lotter)

Ganz dem Zeitgeschmack einer spätabsolutistischen, spätzaristischen Gesellschaft entsprungen ist "La Bayadère", dieses Monumentalwerk Marius Petipas, dem das Ballett auch den "Der Nussknacker", "Dornröschen" oder "Schwanensee" verdankt. Uraufgeführt 1877 in Sankt Petersburg, ist dieses opulente Märchenballett über die verbotene Liebe zwischen der indischen Tempeltänzerin Nikija und dem Krieger Solor gespickt mit Reizpunkten, die in Zeiten postkolonialer Debatten kritisch zu hinterfragen sind. Weshalb das Staatsballett zur Wiederaufnahme vor einem Jahr Anpassungen vorgenommen hat. So gibt es etwa in einzelnen Szenen, die das Indische darstellen sollen, kein "Yellow Facing" oder "Black Facing" mehr. Ob diese kritische Rekonstruktion gelungen ist, davon kann man sich am 24. April im Nationaltheater ein Bild machen.

Das uralte Versdrama "Sakuntala" diente als wichtige Stoffquelle für den Ballettklassiker "La Bayadère". Das Staatsballett hat dazu Illustratorinnen und Illustratoren mit einer Grafic Novel beauftragt, die man auf der Homepage der Staatsoper findet. (Foto: Raman Djafari)

Apropos Bilder: Aus Anlass der Wiederaufnahme von "La Bayadère" hat das Bayerische Staatsballett eine Art Grafic Novel in Auftrag gegeben. Sieben Illustratorinnen und Illustratoren haben je einen Akt von "Sakuntala" zeichnerisch umgesetzt, ein Versdrama des Sanskrit-Autors Kalidasa aus dem vierten Jahrhundert - eine der wichtigsten Stoffquellen für "La Bayadère". Man kann sich auf der Homepage der Staatsoper durch die einzelnen Akte klicken, dort ist auch das Sounddesign von Renu Hossain zu hören, die mit einer Aufnahme von La Bayadère mit dem Bayerischen Staatsorchester gearbeitet hat. Sakuntala ist interaktiv, über den Menüpunkt "Participate" kann man den Machern eine Nachricht und eigene Ideen zukommen lassen.

Hexen und Blaumänner

Immer schneller, immer mehr: Studierende der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater in Kinsun Chans "JIT", das die Arbeitswelten des modernen Menschen reflektiert. (Foto: Ida Zenna)

Die Zukunft des Balletts, wie sieht sie aus? Und wer sind die jungen Menschen, die sich dieser Kunst verschrieben haben, mit aller Leidenschaft die Risiken nicht scheuen? Man kann sie erleben, bei den beiden Frühlingsmatineen der Heinz-Bosl-Stiftung. Die erste am 14. April findet im Rahmen der Ballettfestwoche statt, die zweite dann am 28. April. Das Bayerische Junior Ballett zeigt unter anderem Eric Gauthiers "Nacht auf dem Kahlen Berge", zu Modest Mussorgskis schaurigem Hexen-Sabbat-Sound, den man aus Disneys "Fantasia" kennt. Und die Tänzerinnen und Tänzer der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München schlüpfen in Kinsun Chans Choreografie "JIT" in einheitsblaue Arbeitsoveralls. JIT, das heißt so viel wie "Just in Time" und meint in der Sprache optimierter Logistik, dass Waren und Materialien genau dann geliefert werden, wenn sie benötigt werden. Der Tanznachwuchs jedenfalls, er liefert, genau zur richtigen Zeit.

Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts vom 12. bis zum 20. April, Nationaltheater München, Karten unter www.staatsoper.de

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