Cancel Culture-Debatte:Tempeltanz und Ignoranz

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Mit seinen opulenten Orient-Klischees ganz nach dem Geschmack des späten 19. Jahrhunderts: "La Bayadère" kehrt zurück ans Bayerische Staatsballett, das dieses Repertoire-Stück nun kontextualisieren will. (Foto: Tony Luk)

Ein Ballett-Klassiker voller Orient-Klischees und fragwürdiger Zuschreibungen aus Kolonialzeiten: Wie das Bayerische Staatsballett die Wiederaufnahme von "La Bayadère" kritisch begleiten will.

Von Jutta Czeguhn

Zum Ende ihrer Ära als Gründungsdirektorin des Bayerischen Staatsballetts hatte sich Konstanze Vernon noch einen Traum erfüllt. 1998 kam es im Nationaltheater zur deutschen Erstaufführung von "La Bayadère", einem Monumentalwerk aus der Hit-Werkstatt von Marius Petipa, dem Schöpfer so ikonischer Ballette wie "Der Nussknacker", "Dornröschen" und "Schwanensee". Uraufgeführt 1877 in Stankt Petersburg, entsprach dieses Tanzstück ganz dem Geschmack der spätabsolutistisch, spätzaristischen Gesellschaft. War man im Europa der Belle Époque doch ganz verrückt nach dem schweren Parfüm der Exotik, opulenten Orient-Tableaus.

Petipas Märchenballett über die verbotene Liebe zwischen der indischen Tempeltänzerin Nikija und dem Krieger Solor bediente diesen Eskapismus-Drang perfekt - und transportiert bis heute kitschig-krude Zuschreibungen einer kolonialen Wertewelt. Jetzt bringt Ballett-Chef Laurent Hillaire, der selbst den Solor in Rudolf Nurejews legendärer Pariser Version von 1992 tanzte, "La Bayadère" zurück auf die Bühne des Nationaltheaters. Anders als bei Wiederaufnahmen vergangener Jahre allerdings unternimmt man Anstrengungen, das Werk zu kontextualisieren.

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So gibt es in der Reihe "Ballett extra", in Kooperation mit der VHS München, im Probenhaus am Platzl am Sonntag, 30. April, einen Workshop, mit dem man "einen nuancierten Blick auf die europäische Weltsicht des ausgehenden 19. Jahrhunderts" werfen will. Ballettdramaturg Serge Honegger und Mitglieder des Staatsballetts greifen dazu Elemente aus der Münchner Inszenierung auf. Anoosha Shastry, eine in München tätige Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin aus Bangalore, stellt ihrerseits Elemente aus dem klassisch-indischen Bharatanatyam vor und zeigt, wie die Szenen im Bharatanatyam aussehen würden.

Aber reicht so ein Workshop, an dem nur eine begrenzte Anzahl Interessierter teilnehmen kann und der auch bereits ausgebucht ist, als Auseinandersetzung mit diesem Stück? Und wie steht es mit anderen Werken, die zum Kanon und Kernbestand des klassischen Balletts gehören und heute Fragen aufwerfen, weil sie als kulturell abwertend empfunden werden können. Etwa der chinesische Tanz im "Nussknacker" oder die Harems-Darstellung in "Le Corsaire".

Grundsätzlich, so teilt die Dramaturgie des Hauses auf SZ-Anfrage mit, würden Werke wie "La Bayadère", "die bestimmte, teils von kolonialen Werten geprägte Vorstellungen des Fremden vermitteln, vom Bayerischen Staatsballett im Vorfeld auf eben diese Zuschreibungen überprüft und tradierte Darstellungsformen kritisch hinterfragt". Stellen, die nicht mehr mit heutigen Praktiken oder Sichtweisen vereinbar seien, würden dabei entsprechend modifiziert. "Wir greifen also moderat in die Werke ein, wo es uns geboten scheint und keine urheberrechtlichen Konsequenzen zu befürchten sind." So gebe es im Falle von "La Bayadère" in einzelnen Szenen, die das Indische darstellen sollen, kein "Yellow Facing" oder "Black Facing" mehr.

Die "Cancel Culture" sieht das Haus kritisch

Die "Cancel Culture" und das Eliminieren ganzer Werke aus dem Repertoire jedoch sieht man am Bayerischen Staatsballett kritisch: "Wir möchten diese Werke zur Diskussion stellen. Verschwänden diese oft kanonbildenden Werke von den Spielplänen, gäbe es keine Grundlage mehr für eine Auseinandersetzung, das so genannte "Andere" könnte nicht erfahren und beurteilt werden." Zumal die Ausgestaltung der Werke nicht nur als Aussage über das Fremde an sich zu werten sei, sondern zugleich auch als historischer Kommentar über das eigene Verständnis von Fremdheit und ganz generell von Weltsicht gelesen werden könne. Eine kritische Betrachtungsweise der Werke im Kontext des Wissens des 21. Jahrhunderts sei also wichtig und auf jeden Fall nötig. Man wolle den Dialog eröffnen und Möglichkeiten für eine intensive Auseinandersetzung schaffen.

So will das Bayerische Staatsballett dem Publikum "niederschwellige Möglichkeiten" bieten, sich mit den Werken auseinanderzusetzen. Im Falle von "La Bayadère" gibt es neben dem Workshop, der vielleicht noch weitere Male angesetzt wird, 20- bis 30-minütige Werkeinführungen vor jeder Bayadère-Vorstellung, im Anschluss kann das Publikum dann mit Dramaturg Serge Honegger diskutieren. Zudem wurde das Programmbuch zum Ballett neu aufgelegt und "um zahlreiche Artikel renommierter Autoren zu den genannten Themen ergänzt". Auch mit dem Choreografen Patrice Bart, der schon 1992 bei Nurejew bei der Bayadère-Inszenierung assistiert hatte, und den Tänzerinnen und Tänzerin sei die Leitung des Staatsballetts im Austausch.

"La Bayadère", ab 26. 5., Nationaltheater München, Karten unter www.staatsoper.de

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