Bayerisches Staatsballett:Schlicht ein Wunder

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Ungeheuer intensiv: Laurretta Summerscales und Robin Strona tanzen in "Schmetterling" als Mutter und Sohn einen melancholisch heiteren Danse macabre. (Foto: Carlos Quezada)

Die Ballettfestwoche an der Staatsoper startet mit einer umjubelten Hauspremiere der Doppel-Choreografie "Silent Screen" und "Schmetterling".

Von Jutta Czeguhn

Die großen Kinderaugen, die zu reißenden Wasserstrudeln werden, gehören Saura. Sechs Jahre war das Mädchen alt, als ihre Eltern, die Choreografen Sol León und Paul Lightfoot, sie 2005 für ihre Arbeit "Silent Sceen" filmen ließen. Eine "instabile Zeit" sei das damals gewesen für ihre Beziehung und für die Tochter, verraten die beiden im Programmheft zum Doppel-Ballettabend, der am Freitag als einzige Premiere die Ballettfestwoche an der Staatsoper eröffnet hat. Und dieses großzügig offene Künstlerpaar erzählt noch viel mehr. Dass sie bei den Titeln ihrer Tanzstücke ein Faible für den Buchstaben "S" haben. Dass das Bayerische Staatsballett als erste Kompanie nach dem Nederlands Dans Theater "Silent Screen" und "Schmetterling" (von 2010) einstudieren durfte. Dass die beiden Stücke zuvor noch nie zusammen gezeigt wurden. Und dass Choreografieren wie Gedichteschreiben ist. Nichts von all dem muss man unbedingt wissen. Wie mit Sauras blanken Kinderaugen kann man, ganz ohne Beipackzettel, einfach dasitzen, staunen und intuitiv verstehen.

Inspiriert von den großen Werken der Stumfilm-Ära: Severin Brunnhuber und Eline Larrory in "Silent Screen". (Foto: Wilfried Hösl)
Der einzige Farbtupfer in einem faszinierend monochromen Bühnenbild: die großartige Margarita Fernandes im roten Mantel. (Foto: Nicholas MacKay)

Gesten, Gebärden, sie sind die Muttersprache der Menschheit. In diesem polyglotten Traumland des Schweigens wohnen der Stummfilm, die Pantomime und der Tanz. In "Silent Screen" führen Sol León und Paul Lightfoot alles subtil und unheimlich plausibel zusammen. Ein Triptychon aus großen Video-Leinwänden lädt den dunklen Bühnenraum zur Landschaft auf; ein karges Meerufer, ein lebloser Winterwald, ein leeres Zimmer.

Zur elegisch traurigen Musik von Philip Glass, die schon im Film "The Hours" Virginia Woolfs letzten Weg in den Fluss begleitet hat, umkreist sich ein Paar (Eline Larrory und Severin Brunnhuber). Jeder gefangen in einem Käfig der Einsamkeit, mit aufgerissenen Mündern und Augen. Die Regungen in den Gesichtern der Tänzer sind ebenso expressiv und lesbar wie die von Armen und Beinen. Da sind Wut und Verzweiflung darüber, dass ihnen die Liebe abhanden gekommen ist. Das gemeinsame Kind, Saura auf der Leinwand und auf der Bühne gedoppelt von der wunderbaren Margarita Fernandes, wird am Ende noch einmal auftreten, im roten Mantel, der einzigen Farbe an diesem ganz in eleganter Schwarz-Weiß-Film-Ästhetik gehaltenen Abend.

Werden und Vergehen, die schwer fassbare Natur der Liebe - wovon sonst könnte das Stück "Schmetterling" erzählen? Doch was die Choreografen hier mit dem Staatsballett erschaffen, ist schlicht ein Wunder. Laurretta Summerscales und Robin Strona geben den Rahmen mit einem hinreißend virtuosen Abschiedstanz. Wie der Sohn mit sich ringt, die sterbende Mutter loszulassen, ist traurig und heiter zugleich. Alles darf hier ironisch gebrochen werden. Max Richters Klangsphären wechseln sich ab mit den superlässigen "69 Love Songs" der Indie-Rock-Band The Magnetic Fields, zu denen man, bei anderer Gelegenheit, gerne mal mit einer Bierflasche in der Hand einfach nur vor sich hin wippen möchte. Wer kann schon der Schwerkraft so akrobatisch trotzen, wie es diese unisex verpackte Truppe des Staatsballetts tut. Alle in schwarzen Mänteln, Kleidern und Socken, überwältigen sie mit Tanzkunst und Slapstick in Soli, Duetten, Trios oder als Chorus Line das Publikum, das aufspringt und sehr lange jubelt.

Mehr als nur akrobatische Clowns: Das Ensemble des Bayerischen Staatsballetts, hier Elvina Ibraimova, Rafael Vedra und Shale Wagman, zeigt in der Choreografie "Schmetterling" eine überwältigende Leistung. (Foto: Carlos Quezada)
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