Pegasus und Überwachung:Die gefährlichste Waffe unserer Zeit

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Das Mikrofon wird zur Wanze, die Kamera zur Videoüberwachung, Tracking-Apps liefern zuverlässiger den Standort als jedes Observationskommando. Geheimdienste finden das prima. (Foto: Imago/Collage: SZ)

Wenn jedes Smartphone zur Wanze werden kann, macht das Widerspruch und Widerstand lebensgefährlich. Warum unternehmen EU und Deutschland nichts gegen Überwachungssysteme wie Pegasus?

Von Georg Mascolo

Bei großen Worten und großen Versprechen sollte man darauf achten, dass diese gut altern. Dies ist auch im rauen politischen Betrieb eine Minimalanforderung: Die Wirklichkeit sollte später mal nicht ganz anders aussehen. Die Europäische Union und die gar nicht mehr so neue Bundesregierung sind gerade drauf und dran, diesen Test nicht zu bestehen. Und das in einer Angelegenheit von höchster Bedeutung: Es geht um die Zukunft des Widerspruchs.

Also darum, ob all diejenigen, die in einer Diktatur oder in den viel zu vielen Staaten, die erstrittene Freiheitsrechte mit der Abrissbirne abräumen, sich eben diesen Widerstand noch trauen dürfen. Es geht darum, ob die schon heute große Gefahr von Verfolgung, Haft, Folter und Tod für Menschenrechtsanwältinnen und -anwälte, für Frauenrechtlerinnen und Frauenrechtler, für Journalistinnen und Journalisten ins Unermessliche steigt. Diese Fragen hängen damit zusammen, wie Deutschland und Europa jetzt umgehen mit den Enthüllungen über eines der raffiniertesten Überwachungssysteme der Welt: Es trägt den Namen "Pegasus".

Die 2011 von der israelischen Firma NSO auf den Markt gebrachte Software ist bei Polizeibehörden und Geheimdiensten so beliebt wie das neueste iPhone bei Apple-Fans. Was Cupertino im Silicon Valley für die einen ist, ist das NSO-Hauptquartier in Herzlia nahe Tel Aviv für die Geheimdienstwelt. Der Grund dafür ist das enorme Leistungsspektrum der Software "Pegasus": Es installiert sich unbemerkt, zieht alle gespeicherten Daten ab, auch die Fotos und das Adressbuch. Das Mikrofon wird zur Wanze, die Kamera zur Videoüberwachung, Tracking-Apps liefern zuverlässiger den Standort als jedes Observationskommando. Alles unbemerkt aus der Ferne.

"Pegasus" macht die Vergangenheit seiner Opfer durchsuchbar, die Gegenwart kontrollierbar und lässt die nächsten Schritte der Ausgespähten, also die Zukunft, transparent werden. Der israelische Menschenrechtsanwalt Eitay Mack sagt: "Aufgrund dieser Technologie ist man an vielen Orten in der Lage, den nächsten Nelson Mandela zu identifizieren, bevor er selbst weiß, dass er der nächste Nelson Mandela ist."

Die gefährliche Welt endlich ein Stück sicherer machen, das war die schöne Geschichte

Früh hatte der US-Abhördienst NSA das Smartphone als den Eintritt in das "goldene Zeitalter der Überwachung" gefeiert. Es treibt die Möglichkeiten der Bespitzelung in rauschhafte Höhen. Und "Pegasus" knackt sie auf. Das Risiko dieser Revolution in der Kommunikation ist den Vereinigten Staaten nur zu bewusst. Als Barack Obama als Präsident unbedingt ein Handy nutzen wollte, bekam er es erst nach einer gründlichen Bearbeitung durch seine Geheimdienste: Man konnte damit nicht mehr telefonieren, fotografieren oder Musik hören. "Wie ein Spielzeugtelefon für Dreijährige", sagte Obama. In Olaf Scholz' Kanzleramt stehen Holzkisten, öffnet sich der Deckel, klingt das wie ein kaputtes Radio auf voller Lautstärke. Wenn es vertraulich wird, landen die Handys in der Kiste.

Unterdrückung und Überwachung waren schon immer Zwillinge. Vor allem die Feinde der Freiheit gehören deshalb zu den besten Kunden dieser privatisierten Überwachungsindustrie. Der machtvolle "Pegasus"-Trojaner sollte, so versprachen es die Konstrukteure der Firma NSO, deshalb auch ausschließlich dazu dienen, Verbrecher und Terroristen zu jagen. Gezielt und punktgenau, eine echte Alternative zur Massenüberwachung. Die gefährliche Welt endlich ein Stück sicherer machen, das war die schöne Geschichte.

Hauptsitz der NSO-Gruppe in Herzlia, nahe Tel Aviv. (Foto: Jack Guez/AFP)

Aber seit Jahren weiß man - und seit diesem Sommer in bedrückendem Detail -, dass "Pegasus" ständig auch in den falschen Händen landet. Eine Recherche der Journalisten-Organisation "Forbidden Stories", an der die SZ beteiligt war, wies die Spuren der "Pegasus"-Software in zahlreichen Fällen auf den Handys von Dissidenten und Journalisten nach, auch etwa im EU-Mitgliedsstaat Ungarn. Seither sind zahllose Erkenntnisse hinzugekommen, etwa der Einsatz von "Pegasus" durch die polnische Regierung. Dort existiert sogar der Verdacht, dass damit die Parlamentswahlen manipuliert wurden. Der frühere EU-Ratspräsident und heutige Chef der oppositionellen Partei Bürgerplattform, Donald Tusk, sagt es so: "Das ist die tiefste und ernsteste Krise der Demokratie sei 1989." Wie also reagieren Deutschland und die EU auf diese Bedrohung?

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Auf der Ebene der großen Worte fehlt es an nichts. Im Koalitionsvertrag der Ampel findet sich auf Seite 146 dieses Versprechen: "Zivilgesellschaften - insbesondere Journalistinnen, Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und andere Menschenrechtsverteidiger - sind unverzichtbar für den Aufbau und Erhalt funktionierender Gemeinwesen. Wir verpflichten uns, diese Menschen und ihre Arbeit in besonderer Weise zu stärken und zu schützen, auch bei grenzüberschreitender Verfolgung." Das Europäische Parlament verlieh "Forbidden Stories" für ihre Recherchen den Daphne-Caruana-Galizia-Preis, benannt nach der maltesischen Enthüllungsjournalistin und Bloggerin, die 2017 bei einem Autobombenanschlag getötet worden war.

Die Super-Wanze ist begehrter als Panzer oder Hightech-Kampfflugzeuge

In der kalten Welt der Realpolitik sieht es anders aus. Mit BND und Bundeskriminalamt gehören mindestens zwei deutsche Behörden zu den NSO-Kunden. Gekauft hatte etwa das BKA, als erhebliche Vorwürfe gegen die Firma bereits bekannt waren. Bezahlt wurde ein einstelliger Millionenbetrag, abgenommen wurde die Software im Herbst 2020. Als die Geschäfte durch journalistische Recherchen bekannt wurden, blockten Behörden und Bundesregierung Nachfragen ab. Einzelheiten müssten geheim bleiben, jedes Bekanntwerden gefährde das "Staatswohl". Als wäre es nicht genau andersherum: Geschäfte mit solchen Firmen gefährden das Staatswohl.

Im November überraschte die US-Regierung damit, dass sie die Firma NSO auf eine schwarze Liste des Handelsministeriums setzte. Die "Entity List" war 1997 geschaffen worden, um Firmen zu brandmarken, die mit ihren Geschäften den Bau von Massenvernichtungswaffen befördern. Zur Begründung der ungewöhnlichen Aktion schrieb die US-Regierung, NSO habe Spionagesoftware entwickelt und an ausländische Regierungen geliefert, "die dieses Instrument zur böswilligen Überwachung von Regierungsbeamten, Journalisten, Geschäftsleuten, Aktivisten, Akademikern und Botschaftsmitarbeitern eingesetzt haben". Das Echo war gewaltig, vor allem in Israel, denn NSO exportiert stets mit Genehmigung der dortigen Regierung, und Recherchen der New York Times legen nahe, dass Israel sich Zustimmung von Staaten in aller Welt durch den Verkauf von "Pegasus" sichert.

Die Super-Wanze ist begehrter als hochmoderne Panzer oder Hightech-Kampfflugzeuge. Selbst der Abschluss des 2020 als historisch gefeierten "Abraham-Abkommens" - der Friedensschluss zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain - soll damit erleichtert worden sein. Die USA wussten, was sie tun: Auch deshalb wurde die befreundete israelische Regierung nicht einmal eine Stunde vor der Verkündung der Entscheidung informiert.

Die Bundesregierung versuchte es mit Wegducken, ein Regierungssprecher erklärte, man habe "die Entscheidung des US-Handelsministeriums zur Kenntnis genommen". Darüber hinaus werde man das nicht kommentieren, da es sich um eine interne Entscheidung der zuständigen Stellen der USA handele. Kurz darauf brachte US-Präsident Joe Biden eine "Initiative für Exportkontrolle und Menschenrechte" auf den Weg - der Export von Technologien, die genutzt würden, um "Widerspruch zu ersticken", müsse künftig strenger kontrolliert werden. Damit sich Fälle wie NSO nicht wiederholen, damit nicht die gleichen Geschäfte mit neuem Türschild weitergehen, damit raffinierte Überwachungstechniken nicht in den falschen Händen landen. Dänemark und Norwegen haben die Aktion mit auf den Weg gebracht, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande ihre Unterstützung erklärt. Ausgerechnet Deutschland fehlt noch.

Das liege daran, dass die Ampelregierung gerade erst ins Amt gekommen sei, heißt es von der Regierung. Man werde beitreten, natürlich. Auf die Frage, was das dann bedeuten würde, gibt es bisher keine Antworten: Für alle deutschen Behörden ein Ende sämtlicher Geschäfte mit der NSO? Ein Überprüfungsmechanismus, sodass man künftig nur noch bei denjenigen einkauft, die sich menschenrechtlichen Standards verpflichtet fühlen? Was folgt aus der Feststellung des grünen Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz, dass man durch die Kooperation mit solchen Firmen "massiv zu weltweiten Menschenrechtsverletzungen beiträgt"?

In den deutschen Sicherheitsbehörden und bis hinein in die Regierung gibt es solche, die keine neuen Regeln wollen. Das Vorgehen der USA sei Heuchelei, die könnten noch die raffiniertesten Trojaner selbst entwickeln. Aber Deutschland könne das nicht und sei auf diesen Markt angewiesen. Sonst sei man taub und blind.

Europa ist in der Sache auf beiden falschen Seiten vertreten

Auf EU-Ebene fehlte es bis heute bisweilen sogar an den simpelsten Dingen - etwa einer Antwort auf einen Brief, den Reporter ohne Grenzen, Amnesty International, Human Rights Watch und zahlreiche weitere NGOs im Dezember an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell geschrieben haben. Darin fordern sie "effektive Schritte" und Sanktionen, um Pegasus einzuhegen. Immerhin scheint jetzt etwas in Bewegung zu geraten.

Da sind EU-Parlamentarier wie die Grüne Hannah Neumann, die laut darüber nachdenken, warum nicht ein Sanktionsmechanismus, der bei Menschenrechtsverletzungen angewandt wird, hier auch greifen könnte. Zuletzt sanktionierte die EU die "Wagner"-Gruppe, eine private russische Söldnerarmee, der Folter und Tötungen vorgeworfen werden. Aus der Kommission heißt es, man prüfe jeden denkbaren Weg. Ein Ausschuss des Parlaments, der die Beeinflussung demokratischer Prozesse aus dem Ausland untersuchen soll, hat sich "Pegasus" vorgenommen: Der Bericht lobt das Vorgehen der USA und fordert von den EU-Mitgliedsstaaten Regeln, um NSO und all den anderen Firmen dunkle Geschäfte unmöglich zu machen. Schließlich verlangt der Ausschuss die Gründung eines "European Citizen Lab", in dem Handys auf Spuren von Überwachungssoftware untersucht werden können. Bisher leisten die Arbeit in diesem Bereich Labore an der Universität in Toronto oder bei Amnesty International.

Noch gibt es wenig Reaktionen und schon gar keine Aktionen. Europa bewegt sich langsam. Dabei gäbe es etwas wiedergutzumachen: Das erste Erschrecken über den Einsatz solcher Technologien gab es nach dem Ende des Arabischen Frühlings. Damals tauchten Belege dafür auf, dass Firmen aus Europa die Lieferanten für so ziemlich jeden Staat waren, der seine Bürger unterdrückte. Edward Snowden sagt zu diesen Geschäften: "Wir dulden keinen kommerziellen Markt für Atomwaffen, wir dulden keinen kommerziellen Markt für chemische oder biologische Waffen, aber wenn es um diese digitalen boshaften Angriffsvektoren geht, unternehmen wir rein gar nichts."

Europäische Staaten lassen private Firmen - mit leicht verschärften Exportbestimmungen - solche Überwachungssysteme nicht nur weiter exportieren, inzwischen importieren sie auch. Ein Staatenbund, dessen Fundament nur der Glaube an und die Verteidigung demokratischer Werte sein kann, ist auf beiden falschen Seiten vertreten. So ist der Stand im Februar des Jahres 2022. Soll niemand sagen, er habe nicht gewusst, was hier auf dem Spiel steht.

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