Frauen, die lesen, sind gewissermaßen Transsexuelle. Von Anfang an. Denn was liest jedes Mädchen, wenn es beginnt, sich für ernsthafte Literatur zu interessieren? Den "Fänger im Roggen" zum Beispiel. "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre vielleicht oder "Der Fremde" von Albert Camus, "Narziß und Goldmund" von Herrmann Hesse. Bücher, geschrieben von Männern, in denen die - männlichen - Erzähler sich einen Reim auf die Welt machen. In denen Jungs und Männer leiden, lieben, lernen und vielleicht am Ende zu sich selbst finden.
Frauen sind es gewohnt, in Männerköpfe zu schlüpfen. Das ist schön und im Grunde ja auch die Essenz des Lesens: Man bereichert sein eigenes Leben, indem man durch die Fiktion andere mitlebt. Wer liest, fühlt sich ein, auch in ganz und gar Unbekanntes. In von Zyklopen aufgezogene Waisen, die ihre eigene Mutter heiraten (König Ödipus), in Handelsvertreter, die sich über Nacht in Käfer verwandeln (Kafka) oder, so wie heute, in die Lebensprobleme von sehr viel Tee trinkenden norwegischen Schriftstellern (Karl Ove Knausgard). Jeder, der liest, übernimmt den Blick des Erzählers, schlüpft in einen fremden Kopf.
Schade ist bloß, dass es andersrum so selten passiert. Selbst in den Bücherregalen von an Gegenwartsliteratur interessierten Männern stehen erfahrungsgemäß fast nur Bücher von männlichen Autoren.
Austen, Woolf, Jelinek? Gewiss keine Pflicht
Wer das nicht glaubt, zähle bitte mal nach - Joanne K. Rowling dürfte in den meisten Regalen die einzige Frau sein, deren Name auf den Buchrücken steht. Ganz zu schweigen davon, dass man eine solide klassisch-literarische Bildung ohnehin ganz ohne die Lektüre weiblicher Autoren haben kann. Shakespeare, Goethe und Grass? Muss-Autoren, klar. Aber Austen, Woolf, Jelinek? Vielleicht, für richtige Nerds. Aber gewiss keine Pflicht.
Wer als Frau einen anerkannten Klassiker wie "Stolz und Vorurteil" seinem Lebenspartner ans Herz drücken möchte, blickt mit trauriger Regelmäßigkeit in ein gequältes Gesicht: Da gehe es nur um Gefühle, das interessiere ihn nun mal nicht, sagt der Mann dann gern, obwohl ihm Gefühle im Alltag ganz und gar nicht fremd sind. Jenseits von literaturwissenschaftlichen Seminaren gilt immer noch die Faustregel: Was Frauen schreiben, ist gewissermaßen aus Nischenperspektive verfasst - und deshalb auch nur für Frauen als Leserinnen gedacht. Was Männer schreiben, erscheint der Mehrheit hingegen als universell gültig.
"Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr"
Elena Ferrantes Neapel-Büchern ist es - in Maßen - ebenso ergangen. In eine Reihe mit Jane Austen haben Kritiker sie schon nach dem ersten Band gestellt: "Stellen Sie sich vor", schrieb ein australischer Rezensent, dass Jane Austen wütend wird. Dann haben Sie eine Vorstellung davon, wie explosiv dieses Werk ist." Wie Austen schreibt Ferrante unter Pseudonym, auch wenn es mittlerweile gelüftet ist. Und wie Austen wird sie von manchen in der Literaturschublade "Kitschiges Frauenbuch" einsortiert, also gleich neben dem Backpulver. Im Interview, das der Spiegel vor zwei Jahren mit ihr geführt hat, sagt Elena Ferrante: "Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr."