An der Bucht von Neapel lag vor vielen Jahren eine der mächtigsten Städte der Welt. Von dieser Vergangenheit ist, abgesehen von den Ruinen, ein großes Gemeinwesen geblieben, das es in Europa in solcher Altertümlichkeit wohl nur einmal gibt.
Noch heute scheinen Teile des historischen Zentrums und seiner unmittelbaren Peripherie, von den Bauten bis hin zum gesellschaftlichen Leben, in eine weit zurückliegende Zeit zu gehören. Enge und Geschlossenheit dieser Viertel wirken beinahe mittelalterlich. Und zumindest in manchen von ihnen sind, wie in alten Zeiten, Gefahr und Gewalt allgegenwärtig.
In dieser Stadt spielt die "neapolitanische Suite" einer Schriftstellerin namens Elena Ferrante, eine Folge von vier Romanen mit insgesamt fast zweitausend Seiten.
Publikum und Kritik sind sich angesichts dieses Werks mehr oder minder einig: Elena Ferrante sei der Charles Dickens des 21. Jahrhunderts, schrieb die Londoner Zeitschrift The Economist. Andere verglichen sie mit Franz Kafka (The Guardian) oder mit Émile Zola (The Nation). Wann hätte es je höheres Lob für einen neuen Roman gegeben?
Ein solches Spektakel war nicht vorauszusehen gewesen: "L'amica geniale" ("Meine geniale Freundin" wird das Buch ein wenig sinnverfälscht auf Deutsch heißen), der erste Band, wurde in Italien im Jahr 2011 veröffentlicht und verkaufte sich bis heute in etwa 200 000 Exemplaren, ähnlich wie die früheren Romane der Autorin (die im Ausland wenig Glück hatten).
Wechselspiel der gegenseitigen Überbietung von Kritik und Werbung
Das ist respektabel, aber nicht überwältigend. Die folgenden drei Bände taten es dem ersten Buch nach. Erstaunlich hingegen ist die Wirkung in den Vereinigten Staaten, wo der erste Band 2013 erschien und der letzte im vergangenen Jahr.
Hier erfasste die Bewunderung für das Werk zuerst die professionelle Kritik, um sich dann schnell zu verbreiten, in einem Wechselspiel der gegenseitigen Überbietung von Kritik und Werbung. Bald wurde die Euphorie in andere Länder übertragen, von Schweden über Frankreich bis in die Slowakei - und kehrte nach Italien zurück, wo man nun glaubt, ein Jahrhundertwerk zu besitzen.
Am 27. August wird "Meine geniale Freundin" bei Suhrkamp erscheinen, die anderen drei Bände sollen im Abstand von jeweils einem halben Jahr folgen.
Wilde Spekulationen ranken sich um die Identität der Autorin
Beflügelt wird der Erfolg durch die Inszenierung einer Abwesenheit: Denn "Elena Ferrante" ist ein Pseudonym, das offenkundig dem Namen der italienischen Schriftstellerin Elsa Morante nachgebildet ist. Deren Werk "La storia", ein Monument der Alltagsgeschichte, verursachte 1980 in Italien einen ähnlichen Furor wie heute das Œuvre von Elena Ferrante in der ganzen Welt.
Außer den Verlegern, so heißt es, wisse niemand, wer sich hinter "Elena Ferrante" verberge. Wilde Spekulationen ranken sich um die Identität der Autorin, literarische Detektive wurden in Bewegung gesetzt, Hunderte Artikel einem vermeintlichen Wunder der Diskretion gewidmet. So erregend wirkt es, dass eine Schriftstellerin, die viele Millionen Leser zu bewegen vermag, der wärmenden Sonne des öffentlichen Erfolgs nichts abgewinnen will.
Weniger aufregend sind die Romane: Sie erzählen, in einer flüssigen, unprätentiösen, aber zuweilen stark verdichteten Sprache, die Geschichte einer weiblichen Freundschaft - wobei das Wort "Freundschaft" hier nur unter Vorbehalt gilt.
Gemeinsam gehen die beiden nur durch die ersten Schuljahre
Elena Greco ("Lenù"), eine Frau von 66 Jahren, erinnert sich an ihr Leben, das von früher Kindheit an bestimmt war durch das innige Verhältnis zu der gleichaltrigen Raffaella Cerullo ("Lila"). Diese Gefährtin ist die "geniale Freundin" - und eine "geniale Freundin" ist die Erzählerin selber, wenn auch in einem eher ironischen Sinn.
Doch gemeinsam gehen die beiden nur durch die ersten Schuljahre. Lenù wechselt auf die Mittelschule und auf das Gymnasium, sie studiert in Pisa, an einer der berühmtesten Universitäten Italiens. Sie zieht in die großen Städte des Nordens und wird zu einer erfolgreichen Schriftstellerin.
Lila hingegen bricht die Schule ab, sie bleibt in ihrem schmutzigen Viertel. Doch soll sie die intellektuell Überlegene sein: Sie bringt sich das Lesen selbst bei, im Alter von drei Jahren, sie erwirbt binnen kurzer Zeit so gute Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen, allein und nur anhand eines Lehrbuchs, dass sie ihre Freundin durch die ersten Jahre der "scuola media" wie auch des Lyzeums lotsen kann.
Ihr inniges Verhältnis ist auch geprägt von Rivalität und Eifersucht
Was Lenù mühsam lernen muss, begreift Lila augenblicklich, und was Lenù durch zähe Anpassung erwirbt, verschleudert Lila in wildem Verzicht. Wo Lenù sich angenehm macht, stößt Lila andere Menschen vor den Kopf. Sie tut es, um sich von ihrer "Freundin" zu unterscheiden. Denn so innig Lenù und Lila verbunden sein sollen, so sehr ist ihr Verhältnis geprägt von Rivalität und Eifersucht.
Von Frauen also handeln diese Bücher. Ihr Leben ist prototypisch und komplementär angelegt: Lila sucht ihr Leben innerhalb der Verhältnisse, aus denen sie stammt, selbst zu gestalten; Lenù tut das Entsprechende, indem sie ihr Milieu verlässt. Gewiss, es kommen Männer vor, als Väter und Brüder, als Gatten, Liebhaber und Söhne, als Kollegen, als Schläger und als Autofahrer. Es gibt Familien in diesen Büchern, ein Dutzend oder mehr, sodass man sich viele Namen merken muss.
Auch zieht die italienische Geschichte hindurch, vom Fiat 1100 über die Kampfschriften der Feministin Carla Lonzi (1970) bis zu den Korruptionsskandalen der 90er-Jahre.
Eine nüchterne, zuweilen rücksichtslos analytische Erzählerin
Doch liegt die Aufmerksamkeit auf dem Privaten, genauer: auf den weiblichen Charakteren - ohne dass diese Aufmerksamkeit etwas besonders Aufdringliches hätte. Elena Ferrante ist eine nüchterne, zuweilen rücksichtslos analytische Erzählerin, der die "starke Frau", die Lieblingsgestalt einer offenbar schon historisch gewordenen Etappe der Emanzipation, vermutlich nur suspekt wäre. Denn was verbirgt sich dahinter, wenn nicht die offensive Verneinung des Mannes - und damit seine anhaltende Gegenwart?
Die "neapolitanische Suite" ist den großräumigen Rauschbüchern des 19. Jahrhunderts nachgebildet: leicht zugänglich, ein wenig exotisch und anheimelnd zugleich, mit vielen Figuren, die sich immer wieder zu neuen Kombinationen fügen.
In solchen Romanen hatte einst eine neue, aufstrebende Klasse versucht, der eigenen Existenz eine Form abzugewinnen, getrieben von Neugier wie von Zweifel, von einem Bedürfnis, das eigene Dasein gespiegelt und überhöht zu sehen, wie auch von einem tiefen Misstrauen gegenüber den eigenen Machenschaften.
Rückgriff auf den notorisch gestrigen Mezzogiorno
Doch diese Erzählungen verloren in dem Maße an Bedeutung, wie das bürgerliche Dasein zur vorherrschenden, ja einzigen Lebensform wurde - und es folglich daran nichts Neues mehr zu deuten gab.
Elena Ferrantes Serie will es jenen älteren Romanen nachtun, im Rückgriff auf den notorisch gestrigen Mezzogiorno. Der scheinbar ungebrochene Realismus dieses Romanwerks ist aber ein nostalgisches Projekt. Er bedient den Wunsch, die Epoche des großen realistischen Erzählens hätte nie geendet. Oder es möge sie wieder geben, unter anderen, womöglich weiblichen Voraussetzungen. Diese Nostalgie kostet etwas: Sie ist nur um den Preis einer sentimentalen Konstruktion zu haben.