Filmfestival Venedig:Schockmomente

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Anamaria Vartolomei in "L'évènement/Happening". Die Verfilmung des Buchs von Annie Ernaux wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. (Foto: Filmfestival Venedig)

Die französische Regisseurin Audrey Diwan gewinnt beim Festival von Venedig den Goldenen Löwen für ihr Abtreibungsdrama "L'évènement". Eine gute Wahl?

Von Susan Vahabzadeh

Ein Jahr, in dem erst eine Regisseurin die Goldene Palme in Cannes bekommt und jetzt eine andere den Goldenen Löwen in Venedig, das hat es noch nie gegeben. Die Französin Audrey Diwan ist am Samstagabend mit dem Hauptpreis der 78. Mostra ausgezeichnet worden, für "L'évènement/Happening" nach dem fast autobiografischen Buch "Das Ereignis" von Annie Ernaux. Diwans Film bezieht seine Schocks aus der schonungslosen Abbildung von Momenten, die absolut real sind, sonst aber diskret ausgespart werden.

"L'évènement" spielt im Jahr 1963, die Studentin Anne ist schwanger, ungewollt, das Resultat eines Augenblicks der Schwäche. Wenn sie das Kind bekommt, dann sind alle anderen Träume, ihre eigenen und die ihrer Eltern, die sich abrackern, um sie auf die Uni schicken zu können, vorbei. Ich hatte eine Krankheit, sagt sie einmal, die nur Frauen bekommen und die sie dazu verurteilt, Hausfrauen zu werden. Abtreibungen waren in Frankreich illegal zu dieser Zeit, sie fanden, wie jeder weiß, trotzdem statt. Anne riskiert, als sie zu einer Engelmacherin geht, eine Gefängnisstrafe, und irgendwie natürlich auch die Todesstrafe für ihre Lust. Sie kommt dabei tatsächlich fast ums Leben, Audrey Diwan zeigt ihre seelische Qual, vor allem aber auch die physische, die ihr einziger Ausweg ist, in drastischen Bildern, auf die das Kino in Sachen Abtreibung sonst verzichtet. Man muss schon sehr wenig wissen darüber, wie sehr die Autonomie ihres Körpers für Frauen in weiten Teilen der Welt in Frage steht, um zu glauben, Diwan habe da eine Geschichte von gestern erzählt. Islamisten, Rechte, auch in Europa und den USA, wollen genau die Ohnmacht, mit der Anne ihrer Zukunft gegenübersteht, wiederherstellen.

Die Früchte eines pandemisch bedingten Kreativstaus hat man in Venedig leider nicht gesehen

Im vergangenen Jahr hat in Venedig auch schon eine Frau die Haupttrophäe erhalten, Chloé Zhao für ihren späteren Oscar-Sieger "Nomadland". 2021 waren zwar nur vier Regisseurinnen im Wettbewerb vertreten, davon haben aber gleich drei große Preise bekommen. Den Regie-Löwen hat Jane Campion ("Das Piano") für "The Power of the Dog" bekommen, der Drehbuchpreis ging an Maggie Gyllenhaal für ihr Regiedebüt, die Elena-Ferrante-Verfilmung "The Lost Daughter". Irgendwer wird sich bestimmt finden, der meint, die Jury habe bei ihren Entscheidungen Frauen bevorzugt. Das stimmt schon mal nicht. Eher kann man davon ausgehen, Paolo Sorrentino habe für "Die Hand Gottes" den Grand Prix der Jury nur bekommen, damit auch ein Mann unter den Preisträgern ist; einer Frau würde man seine schöne, sehr persönliche Coming-of-Age-Geschichte vielleicht als zu leichtgewichtig auslegen.

Audrey Diwan mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig 2021. (Foto: Domenico Stinellis/dpa)

Campions böser Western, in dem Benedict Cumberbatch als verkorkster Cowboy seiner Schwägerin das Leben zur Hölle macht, hat eine verstörende Vorstellung von einem Happy-End, aber er ist perfekt inszeniert. In Maggie Gyllenhaals "The Lost Daughter" hadert Olivia Colman mit ihrer Mutterrolle. Wie Gyllenhaal von der Ambivalenz zwischen Liebe und Last der Verantwortung erzählt, die wundersame Art, mit der sie ihrer Figur menschliche Schwächen zugesteht, die Müttern gemeinhin abgesprochen werden, ohne sie dafür zu verurteilen - das ist tatsächlich preiswürdig. Eigentlich sind die Entscheidungen der Jury, auf den ganzen Wettbewerb bezogen, naheliegend.

Almodóvars Film "Parallele Mütter" hätte mehr verdient als nur den Darstellerpreis für Penélope Cruz

Denn mal ganz im Ernst: Die Früchte eines pandemisch bedingten Kreativstaus hat man in Venedig nicht zu sehen bekommen, und Teile des Weltkinos fehlten - kein koreanischer Film, kein Libanese, kein Iraner, kein Wettbewerbsbeitrag aus China. Es hat durch Corona bedingte Drehausfälle gegeben, an manchen Orten wird aber auch einfach die Zensur immer härter. Es gab dennoch ein paar Filme, die auch noch für einen Preis in Frage gekommen wären. Den polnischen Wettbewerbsbeitrag "Leave no Traces" von Jan Matuszyński etwa, der davon handelt, wie das Regime 1983 die Justiz korrumpierte. Und kaum jemand hätte sich beklagt, wäre Almodóvars "Parallele Mütter" mit mehr bedacht worden als der Coppa Volpi für die beste Darstellerin für Penélope Cruz.

Aber es haben ein paar sehr unausgegorene Projekte in den Wettbewerb gefunden, denen man gewünscht hätte, dass ihre Schöpfer die durch Corona erzwungene Pause für ein paar grundsätzliche Gedanken zu nutzen gewusst hätten. Glaubt Gabriele Mainetti wirklich, es sei geschmackvoll, in seinem seltsamen Zirkus-Superhelden-Film "Freaks Out" - eine Art "X-Men" für Dilettanten - Nazi-Greuel mit Glühwürmchen und Clowns zu vermengen? Hat es Damiano und Fabio D'Innocenzo nie gestört, dass ihr "America Latina" hanebüchen an einem Mann herumpsychologisiert, ohne dem angeketteten Mädchen in seinem Keller ein einziges Wort zuzugestehen? Hat sich der Ukrainer Valentyn Vasyanovych nie gefragt, was die ungemein stylishe Ausstattung in seinem Film "Reflection" über seine Figuren erzählt? Oder Erik Matti, dessen Hauptdarsteller John Arcilla für "On the Job: The Missing 8" über korrupte Politiker und Polizeigewalt auf den Philippinen den Darstellerpreis gewann, wie viele Split-Screens ein einziger Film verträgt?

Es gibt schon gute Gründe, warum diese Filme dennoch zum Spannungsbogen dieses Festivals beigetragen haben, Festivals sollen Strömungen abbilden. Eine Filmauswahl ist immer auch von dem geprägt, der sie getroffen hat - dennoch kann man keine zwanzig Filme finden, die aus unterschiedlichen Ländern stammen und sich dennoch zueinander verhalten, wenn es da nicht tatsächlich einen Trend gibt. In Venedig konnte man sehen, dass die immer tiefer werdenden Gräben, die durch die Gesellschaften gehen, auch das Kino betreffen, dass die wackligen und gefallenen Demokratien ihren Tribut von den Geschichten verlangen.

Nur ein einziger Film, "Il Buco", ein schweigsames, dokumentarisch anmutendes Stück über eine Höhlenexpedition in den Sechzigern - ausgezeichnet mit einem Spezialpreis - blieb in jedem Moment ganz ruhig und plätscherte anmutig dahin. Ansonsten wirkte der Wettbewerb, als gebe es ein Rennen um Schockmomente und eine Inflation der Gewalt - Folterszenen, Enthauptungen im Dutzend, Abtreibung, Horrorfilme. Die Bilder werden härter und plakativer, die Götter des Gemetzels haben das Kino fest im Griff. Wenn sich auf den Leinwänden tatsächlich spiegelt, wo wir stehen - dann ist die Welt aus den Fugen.

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