Debatte über Mindesthaltbarkeitsdatum:Deine Zeit ist abgelaufen

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Ein Drittel aller Nahrungsmittel landet im Müll, während Millionen Menschen hungern. Ein FDP-Politiker glaubt, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum auf Verpackungen daran eine Mitschuld hat, weil es die Verbraucher verwirre - und schlägt neue Begrifflichkeiten vor. Die zuständige Ministerin will das Problem hingegen mit Brotsuppe und Bruschetta lösen.

Jannis Brühl

Bei diesen Bildern blieb vielen das Popcorn im Hals stecken: Bagger, die durch Berge von Salat und Tomaten fahren. Mülleimer, randvoll mit Brotlaiben. Afrikanische Bauern, die ihrem Acker Erträge abringen, aber buchstäblich für die Tonne produzieren. Der Film Taste the Waste von Valentin Thurn führte uns in diesem Herbst vor, dass jedes Jahr unfassbare Mengen genießbarer Nahrung im Müll landen. 179 Kilogramm pro Europäer sind es laut neuesten EU-Zahlen, der UN-Ernährungsorganisation FAO zufolge geht ungefähr ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion als Abfall verloren.

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Die große Verschwendung beruht auf einem Missverständnis, glaubt zumindest der FDP-Bundestagsabgeordnete Hans-Michael Goldmann: Die Deutschen werfen seiner Meinung nach vor allem deswegen so viel Essen weg, weil sie das Mindesthaltbarkeitsdatum mit dem Verzehrdatum verwechseln. Sein Vorschlag: Auf den Packungen soll nicht mehr stehen: "Mindestens haltbar bis ...". An diesem Mittwoch will er im Ernährungsausschuss des Parlaments darüber diskutieren.

Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) sagt nichts über die "Haltbarkeit" des Lebensmittels aus im Sinne von "Unbedenklichkeit". Diese Funktion übernimmt nur das Verzehrdatum. Das findet sich aber nur auf Hackfleisch, Fisch und einigen Produkten aus rohen Eiern. Nur dieses Essen sollte wirklich in den Müll, wenn das Datum auf der Packung überschritten ist.

Was hat es also mit dem "Begriffskoloss Mindesthaltbarkeitsdatum" auf sich, dem Goldmann den Kampf angesagt hat? Das steht in der Lebensmittelverordnung: Der Stichtag zeigt an, bis wann das Produkt "unter angemessenen Aufbewahrungsbedingungen seine spezifischen Eigenschaften behält". Im Klartext: Das Mindesthaltbarkeitsdatum verrät also nicht, wann der Schokopudding verdirbt und krank macht, sondern zunächst nur, ab wann das Sahnehäubchen seine Form verlieren kann. Farbe, Konsistenz oder andere "spezifische Eigenschaften" sind nur bis zu diesem Datum garantiert. Die Ernährungswissenschaftlerin Petra Teitscheid von der Fachhochschule Münster sagt: "Ein gutes Beispiel ist Mineralwasser in Kunststoffflaschen. Der Hersteller garantiert nur, dass die Kohlensäure so lange drinbleibt. Das hat überhaupt keinen Einfluss auf die Gesundheit."

Die Verbraucher meiden Essen, das bald abläuft, glaubt Goldmann. Gekaufte Lebensmittel würden viele kurz vor oder direkt nach dem Datum wegwerfen, selbst wenn sie noch einwandfrei seien. Das Mindesthaltbarkeitsdatum würde so zur Wegwerfhilfe, sagt er. Supermärkte nehmen auch Produkte vor dem Datum aus den Regalen, weil die Kunden sie nicht mehr wollen. Diese Lebensmittel gehen oft an die Tafeln und werden an Bedürftige verteilt.

Seine Idee: Zwei Daten auf jeder Packung. Angelehnt an das britische "best before ..." könnte dort "Voller Genuss bis ..." stehen - was dem heutigen MHD entsprechen würde. Zusätzlich könnte der Aufdruck "Essbar bis ..." den Tag markieren, ab dem das Produkt tatsächlich nicht mehr genießbar ist.

Goldmann gibt zu, dass Taste the Waste ein Grund dafür ist, dass die Diskussion um Lebensmittelverschwendung erst jetzt hochkocht. Der Liberale will handeln - auch weil er einen "Generalangriff gegen uns" wittert. Mit "uns" meint er die Industriegesellschaften, als Angreifer sieht er jene Kritiker, die Essensverschwendung anprangern. Essen müsse auch eine ethische Komponente haben, sagt er.

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Im Verbraucherministerium, das der Koalitionspartner CSU besetzt, hält man nichts von Goldmanns Idee: "Eine Abschaffung des Mindesthaltbarkeitsdatums steht für uns nicht zur Diskussion", sagt eine Sprecherin von Ministerin Ilse Aigner. Sie will eine Studie zur Verschwendung von Lebensmitteln abwarten, deren Ergebnisse Anfang 2012 vorgestellt werden. "Dann kann man über Einzelheiten reden", sagt die Sprecherin. Das Ministerium setzt stattdessen auf Aufklärung. Ziel sei es, "das Bewusstsein, dass ein Mindesthaltbarkeitsdatum kein Verfallsdatum ist" zu schaffen, sagte Aigner vor kurzem der B.Z. am Sonntag.

"Frau Aigner gibt nur Verbrauchertipps"

Die Grünen geht die reine Aufklärung nicht weit genug. Die Abgeordnete Nicole Maisch sitzt mit Goldmann im Ernährungsausschuss. Sie sagt: "Frau Aigner gibt nur Verbrauchertipps." Stattdessen müssten Handelsnormen geändert werden, Produzenten und Händler dürften krumme Gurken und größere unförmige Kartoffeln nicht mehr als "unvermarktbar" aussortieren. Ernährungswissenschaftlerin Teitscheid sagt, dass auch die Produzenten in der Pflicht seien: Derzeit seien ihre Datumsangaben oft zu früh angesetzt.

Die bisherigen Versuche Aigners, die Verbraucher aufzuklären, wirken tatsächlich eher betulich: Sie sagt in Interviews Sätze wie: "Es tut mir einfach leid, wenn Sachen weggeworfen werden." Und auf seiner Homepage empfiehlt ihr Ministerium neuerdings, altes Brot nicht wegzuwerfen. Schließlich ließen sich daraus "leckere Rezepte wie zum Beispiel Semmelknödel, Arme Ritter, Brotsuppe und Bruschetta zaubern".

Die Verantwortung für den Essensberg, der jährlich vernichtet wird, will niemand übernehmen: Die Qualität eines Lebensmittels garantiert grundsätzlich der Hersteller - allerdings nur bis zum MHD. Auch danach dürfen die Produkte noch verkauft werden; aber nur, wenn der Händler die Unbedenklichkeit sicherstellt. Daran hat kein Supermarkt Interesse, wegen einer simplen Rechnung: Um die Unbedenklichkeit zu garantieren, müsste er Personal schulen und dann zur Kontrolle abstellen. Das ist allemal teurer, als das Essen einfach wegzuwerfen und die Regale mit neuen Produkten zu füllen.

Aigner nennt die Mengen, die Händler wegwerfen, "erschreckend". Der Handel protestiert: Dem Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandel (BVL) zufolge beträgt der Anteil des Handels an der Verschwendung nur fünf Prozent.

Die Verbaucher werden vorerst keine neuen Daten auf ihrem Essen lesen: Selbst Goldmann glaubt nicht, dass es eine Neuregelung geben wird, bevor Aigner ihre große Studie 2012 veröffentlicht. Bis dahin sollten Kunden sich auf ihre eigenen Fähigkeiten verlassen, sagt Ernährungswissenschaftlerin Teitscheid: Ob ein Lebensmittel noch gut sei, könne man riechen, fühlen, schmecken. Und wenn man sich nicht sicher ist, kann man ja doch einmal Frau Aigners Brotsuppe ausprobieren.

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