Vorwürfe gegen Amazon:Regelrecht ausgeliefert

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Gigantische Logistik: Zigtausende Pakete rollen bei Amazon über die Förderbänder - der Mensch drohe auf der Stecke zu bleiben, sagen Kritiker. (Foto: Johannes Simon)
  • Die Gewerkschaft Verdi wirft Amazon einen "unmenschlichen Umgang" mit seinen Mitarbeitern vor. Am Standort im schwäbischen Graben gebe es Verstöße gegen Langzeitkranke und Schwangere.
  • Verdi spricht davon, dass es keine Einzelfälle seien.
  • Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück. Konkrete Fragen zur Krankenquote und zum Umgang mit Schwangeren bleiben unbeantwortet.

Von Stefan Mayr, Graben

Sylwia Lech ist seit zweieinhalb Jahren Betriebsrats-Vorsitzende im Amazon-Logistikzentrum in Graben bei Augsburg. Bislang hat sie sich nur im Hintergrund für die Rechte ihrer Kollegen eingesetzt und mit öffentlichen Äußerungen sehr zurückgehalten. Doch jetzt will die 35-Jährige angesichts des hohen Drucks auf die Arbeitnehmer nicht mehr länger schweigen. "Die Vorgesetzten sagen dir heute: Gute Leistung, wir sind zufrieden", erzählt Lech. "Und wenn du am nächsten Tag exakt dasselbe schaffst, sagen die gleichen Vorgesetzten: Schlechte Leistung." Diese Art von Motivation hinterlasse ihre Spuren: "Das kann nur krank machen, das hältst du nicht lange aus."

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Die Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi geht noch einen Schritt weiter, aus aktuellem Anlass erhebt sie einmal mehr schwere Vorwürfe gegen die schwäbische Niederlassung des US-Konzerns. "Wir haben hier klare Verstöße gegen das Mutterschutzgesetz und das Sozialgesetzbuch", sagt Gewerkschafts-Sekretär Thomas Gürlebeck. Er wirft dem Unternehmen nicht nur allgemein einen "unmenschlichen Umgang" mit den Mitarbeitern vor, sondern auch konkrete Gesetzesverstöße gegen Langzeitkranke und Schwangere.

"Bei Amazon Graben haben wir eine Krankheitsquote von 15 Prozent", sagt Gürlebeck. Üblich seien in der Branche sieben Prozent. "Nirgends ist die Quote zweistellig", betont Gürlebeck, "außer bei Amazon." Derzeit verdienen etwa 2000 Mitarbeiter in den knallgelben Hallen nahe der Bundesstraße B 17 ihr Geld, für das Weihnachtsgeschäft werden weitere Hunderte Saisonkräfte eingestellt.

Warum bei Amazon so viele Mitarbeiter krank werden

Betriebsrätin Sylwia Lech berichtet, warum der Krankenstand in Graben so hoch ist: "Unsere Kolleginnen und Kollegen werden durch permanente Feedbackgespräche zu Höchstleistungen angetrieben." Wer nicht stetig seine Leistung steigere, müsse zu einem "Feedback-Gespräch" in die Personalabteilung. Eine Folge dieses Drucks sei, "dass sich die Leute krank in den Betrieb reinschleppen". Das mache die Mitarbeiter "langfristig natürlich noch kränker".

Und wenn die Personen erst einmal nachhaltig angeschlagen seien, dann würden sie kurzerhand entlassen, kritisiert Gewerkschafter Thomas Gürlebeck. Dies geschehe mit unzulässigen Methoden. Gürlebeck verweist auf das sogenannte Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Dieses ist im Sozialgesetzbuch geregelt und dient laut Gürlebeck der Vermeidung weiterer Arbeitsunfähigkeitszeiten. "Aber Amazon dreht den Spieß um und nützt die BEM-Gespräche, um die Leute loszuwerden", sagt der Verdi-Mann.

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Eigentlich müsste der Arbeitgeber in diesen Gesprächen mit der betroffenen Person einen Alternativ-Arbeitsplatz oder eine Veränderung der Arbeitsumstände erörtern und anbieten, betont Gürlebeck. "Aber das wird kaum gemacht. Stattdessen sagt Amazon: Wir haben leider keinen anderen Arbeitsplatz, deshalb müssen wir dich aus Fürsorge freistellen." Gürlebeck spricht von 80 derartigen Kündigungen. In 13 Fällen sind derzeit Kündigungsschutzklagen vor dem Arbeitsgericht anhängig.

Auch im Umgang mit schwangeren Frauen halte sich Amazon nicht an die Gesetze, kritisiert Thomas Gürlebeck. "Obwohl ein gesetzliches Beschäftigungsverbot vorliegt, werden werdende Mütter genötigt, zuerst ihre Überstunden und Urlaubstage abzubauen." In persönlichen Gesprächen mit der Personalleitung werde schwangeren Frauen eine Abmachung vorgelegt, berichtet Gürlebeck. "Und wenn sie nicht sofort unterschreiben, dann werden sie drangsaliert."

Hubert Thiermeyer, Fachbereichsleiter für den Handel bei Verdi Bayern, betont, dass das keine Einzelfälle sind: "Wir müssen von einem System Amazon sprechen. Ein System, bei dem nationalstaatliche Regelungen zum Schutz und zur Mitbestimmung der Beschäftigten missachtet, ausgehebelt oder gezielt umgangen werden."

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Das Unternehmen weist auf Anfrage alle Vorwürfe zurück. "Amazon beachtet bei Kündigungen stets die bestehenden gesetzlichen Vorgaben", sagt eine Sprecherin. Bei Kündigungen, die "personenbedingt aufgrund einer negativen Zukunftsprognose ausgesprochen werden müssen", handele das Unternehmen "besonders umsichtig". Es sei sich seiner Verantwortung als Arbeitgeber bewusst - "sowohl den Mitarbeitern gegenüber, von denen wir uns gegebenenfalls trennen müssen, als auch jenen Mitarbeitern gegenüber, die bei uns arbeiten".

Angaben über die Zahl der Kündigungen und der daraus folgenden Klagen macht das Unternehmen nicht. Auch konkrete Fragen zur Krankenquote und zum Umgang mit Schwangeren bleiben unbeantwortet. Stattdessen betont Amazon ganz allgemein: "Die Gesundheit und Sicherheit unserer Mitarbeiter hat für Amazon oberste Priorität. Das Thema Krankheit und Krankenquote geht das Unternehmen mit seinen Mitarbeitern offen an." So habe in Graben im April ein "Gesundheitstag" stattgefunden, an dem mehr als 500 Mitarbeiter teilnahmen.

Thomas Gürlebeck überzeugt das nicht. "Amazon hat kein Interesse an gesunden Arbeitsplätzen", sagt er. "Die Maschine läuft ja, und die Zeche zahlen die Beschäftigten und die Allgemeinheit." Die Ressource Mensch werde "ausgeschöpft", "und wenn die Arbeit dich krank gemacht hat, wirst du weggeworfen". Betriebsrätin Sylwia Lech kennt viele Nebenwirkungen des enormen Arbeitstempos: "Es gibt Kollegen, die wegen des hohen Drucks nicht auf Toilette gehen und sich kein Wasser zum Trinken holen."

© SZ vom 28.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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