Amazon:Wenn einem Unternehmen alles egal sein kann

Lesezeit: 3 Min.

Amazon-Lager in Phoenix, USA (Foto: Bloomberg)

Amazon mag als Arbeitgeber nicht den besten Ruf haben. Aber das Unternehmen muss sich nicht darum kümmern, denn das Geschäftsmodell fußt auf der immerwährenden Bequemlichkeit der Menschen.

Ein Kommentar von Annette Zoch

Ein schwungvoller Pfeil weist im Firmenlogo vom a zum z, er suggeriert ein Lächeln. Amazon-Kunden bringen aber meist nur ein verschämt-entschuldigendes Grinsen zustande, zumindest, wenn sie die Sendung beim lokalen Buchhändler unten im Wohnhaus abholen müssen, wo der Paketbote sie in ihrer Abwesenheit abgegeben hat. Nicht jeder gibt es gerne zu, aber viele tun es: Sie bestellen bei dem Versandhändler mit dem schlechten Ruf.

Die New York Times hat nun berichtet, wie es zumindest in den USA bei der Firma zugeht: Nicht nur in den Logistik-Zentren, auch in den Büros herrscht demnach ein menschenverachtender Umgang. Nach Angaben von mehr als 100 Insidern werden Mitarbeiter schikaniert und überwacht, sie sind angehalten, sich bei Fehlverhalten gegenseitig anzuschwärzen. Kranken drohe der Rauswurf. Ehemalige Mitarbeiter berichten von weinenden Kollegen, herumschreienden Chefs und einer Art Wettbewerb, wer am längsten im Büro bleibt. Kann man bei so einer Firma mit Anstand kaufen?

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Optimal in einem hoch verdichteten Alltag

Keine Frage braucht Amazon weniger zu interessieren als diese. Nichts muss Amazon weniger fürchten als gelegentlich wiederkehrende Boykott-Aufrufe von Verlegern, Autoren oder Konsumkritikern. Amazon ist in den vergangenen Jahren so groß geworden, dass ein paar tausend brave Boykotteure, ein paar Tausend Kunden mehr oder weniger also den Konzern gar nicht jucken. Dafür weiß er die größte Schwäche von Menschen viel zu gut zu nutzen: ihre Bequemlichkeit.

Sein allumfassendes Angebot passt nun mal optimal in den hoch verdichteten Alltag der Kundschaft. Bei den Pendelfahrten zwischen Büro, Kita, Nachhilfelehrer und Elternabend schaffen es viele Menschen gerade noch so vor Ladenschluss in den Lebensmittelmarkt. Und das Geburtstagsgeschenk für Vater, Bruder, Ehemann? Ist, wenn das Kind im Bett ist und sich die Welt da draußen endlich langsamer dreht, lieber gemütlich vom Sofa aus bestellt.

Weil es bei Amazon inzwischen auch Dichtungsringe, Duschvorhänge und Staubsaugerdüsen gibt, muss man zwischen Büchern und Düsen nicht einmal mehr das Internetportal wechseln. Und nach der Shopping-Tour? Rüber zu Amazon Instant Video, die Staffel 6 von "Breaking Bad" liegt zum Gratisabruf bereit. Wer auf dem Land lebt, hat zudem oft gar keine andere Wahl mehr, als online einzukaufen. Nicht nur Buchhändler machen dort reihenweise zu, auch Optiker, Apotheken, Schuhgeschäfte, Boutiquen. Wegen des Wachstums des Online-Handels im Allgemeinen und Amazons im Besonderen. Vor ein paar Jahren hatten Menschen vielleicht noch die Wahl, online oder offline zu kaufen. Jetzt nicht mehr unbedingt.

Was sich nach bequemem Einkaufen anhört, ist dies aber nicht zwingend. Vielleicht spart man sich tatsächlich die Zeit in der Kassenschlange. Dafür standen aber wohl noch nie so viele Menschen Schlange vor der Post. Weil die Anlieferung an eine Packstation mal wieder nicht funktioniert hat; weil man grundsätzlich nicht zu Hause ist, wenn das Päckchen kommt; weil der von einem Subsubsub-Unternehmer beschäftigte und mies bezahlte Paketbote auf seinen Auslieferungsrouten so wenig Zeit hat, dass er lieber gleich einen Benachrichtigungszettel in den Briefkasten wirft, statt 40 Kilogramm Katzenstreu in den fünften Stock zu schleppen.

Dieser Paketbote steht ohnehin am unteren Ende der Nahrungs- und Lieferkette. Er ist - wenn denn die Zustellung klappt - der einzige Mensch, den der Konsument im Laufe seines Kaufvorgangs sieht. Online-Shopping ist anonym. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, warum Berichte über schlechte Arbeitsbedingungen an Konsumentscheidungen nichts ändern.

Zwar möchte wohl jeder, der Dinge kauft, sei es online oder offline, dass die Beschäftigten des Händlers von ihrer Arbeit gut leben können und in ihren Unternehmen ordentlich behandelt werden. Vor allem aber will jeder Konsument für sich selbst stets das Beste herausholen - und sich auf keinen Fall eine Mühe aufhalsen, die sowieso sinnlos wäre: Man wendet ja nicht das Schicksal des örtlichen Schuhhändlers, wenn man dieses eine Mal doch wieder zu ihm ginge. Aber man hat die gefühlte Kosten- und Zeitersparnis, wenn man auch dieses Mal wieder per Klick kauft.

Der Unterschied zwischen Konsumenten und Beschäftigten ist doch der: Beschäftigte können ihre Bedingungen nur verbessern, wenn sie sich in Gewerkschaften zusammenschließen. Konsumenten hingegen können sich auch als Einzelne zu Königen machen. Amazon ist ein Gigant, und jeder Kunde ist ein Egoist. Auf diese Weise verändern der eine und die anderen gemeinsam die Welt.

© SZ vom 19.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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