Pflege in der Krise:"Uns haut's gerade alle Kosten durcheinander"

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Der größte Teil der Mehreinnahmen durch höhere Beiträge soll in die Verbesserung von Pflegeleistungen investiert werden, so sieht es der Gesetzentwurf vor. (Foto: imago)

Corona, Energie, höhere Löhne: Über den Pflegediensten braut sich gerade ein perfekter Sturm zusammen, der die Existenz vieler Betriebe bedroht. Warum das am Ende vor allem Frauen schaden könnte.

Von Thomas Balbierer, München

"Ich hoffe, Sie haben ein bisschen Zeit mitgebracht", sagt Bettina Plettl am Telefon und lacht verlegen. "Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll." Dann holt die Chefin des Pflegedienstes Medivital im niederbayerischen Bad Birnbach Luft und erzählt von dem perfekten Sturm, der sich da gerade über ihrer Branche zusammenbraut - und der die Pflege in Bayern schwer beschädigen könnte. "Ich bin seit 25 Jahren im Geschäft, aber so was habe ich noch nicht erlebt", sagt Plettl.

Der Wind peitscht den Pflegebetrieben aus mehreren Richtungen ins Gesicht, wie sie aufzählt: Zuerst liefen im Sommer die Zahlungen aus dem Corona-Rettungsschirm aus, obwohl die Pandemiebelastungen gerade wieder zunehmen. "Auf den Kosten für Atemmasken, Schutzausrüstung und Corona-Tests bleibe ich seitdem sitzen", klagt die Firmenchefin, deren rund 60 Angestellte sich mehrmals pro Woche testen lassen müssen - und deshalb auch häufiger mit einem positiven Ergebnis ausfallen als in anderen Berufen.

Bettina Plettl, Chefin des Pflegedienstes Medivital, bereiten die Energiepreise Sorgen: "Wir sparen, wo es geht, unsere Büros bleiben kalt. Aber bei den Patienten können wir nicht einfach die Heizung abdrehen." (Foto: privat)

Anfang September griff dann die gesetzliche Tarifpflicht für Fachkräfte in der Altenpflege. Für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das eine gute Nachricht, weil ihre Löhne im Schnitt steigen. Doch Plettl schätzt, dass sich ihre Lohnkosten damit "um rund zehn Prozent erhöhen. Und das obwohl wir schon davor viele Zuschläge und Sondervergütungen gezahlt haben".

Auch die massiv gestiegenen Energiekosten schlagen ein wie ein Blitz: Kürzlich sei ein Schreiben vom Gasversorger eingegangen, berichtet sie. Der Gaspreis für das Büro sollte sich verneunfachen - von 1500 Euro im Jahr auf 11 200. In der Tagespflegeeinrichtung, in der Patienten tagsüber von Personal betreut werden, sollten die Heizkosten sogar von 3400 auf 27 000 Euro steigen. "Wir sparen, wo es geht, unsere Büros bleiben kalt. Aber bei den Patienten können wir nicht einfach die Heizung abdrehen", sagt Plettl. Manchen sei es schon jetzt zu kalt.

Etwa 150 Patientinnen und Patienten versorgt Medivital im Landkreis Rottal-Inn, die meisten werden zu Hause von der Familie gepflegt und von Plettls ambulanten Pflegekräften vor Ort unterstützt. Womit das nächste Problem benannt wäre: Plettls Team kurvt mit zwölf Autos von Haus zu Haus, jedes Fahrzeug legt im Durchschnitt 30 000 Kilometer pro Jahr zurück. Bei den derzeit hohen Spritpreisen kommt eine stattliche Tankrechnung zusammen.

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"Uns haut's gerade alle Kosten durcheinander", sagt die Chefin. "Mir wird angst und bange, wenn ich an die kommenden Monate denke." Plettl spricht nicht nur für sich, wenn sie vor den immensen Belastungen warnt. Als stellvertretende Landesvorsitzende im Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) kennt sie auch die Situation von anderen Betrieben in Bayern, vielen gehe es deutlich schlechter. Sie prophezeit eine Insolvenzwelle im kommenden Jahr, falls sich Verbände und Krankenkassen nicht schnell auf einen finanziellen Ausgleich einigen.

"Ich glaube, dass vor allem kleinere Betriebe bald in die Knie gehen werden."

Die Verträge mit den Kostenträgern wurden in einer Zeit geschlossen, in der die Energiekrise nicht absehbar war, sie laufen bis zum Jahresende. Die Pflegedienste wollen nachverhandeln, um zumindest einen Teil der Belastungen abzufedern. Doch laut Plettl, die für den BPA an den Vergütungsverhandlungen beteiligt ist, sieht es derzeit nicht gut aus. "Ich glaube, dass vor allem kleinere Betriebe bald in die Knie gehen werden."

Die Gefahr einer Insolvenzwelle sei real, bestätigt Peter Bauer, Pflege- und Patientenbeauftragter der bayerischen Staatsregierung. "Die Situation ist bayernweit dramatisch." Der Landtagsabgeordnete der Freien Wähler befürchtet, dass sich der Pflegenotstand massiv verschärfen werde, wenn Politik und Krankenkassen den Pflegeeinrichtungen nicht unter die Arme greifen. Deshalb müsse die Bundesregierung die Unternehmen dringend bei den Energiekosten entlasten, statt mit einer fragwürdigen Gasumlage neue Belastungen zu schaffen.

Der Pflegebeauftragte bringt einen bayerischen Sonderfonds ins Spiel

Aber auch die Landesregierung in Bayern könne tätig werden, räumt der Experte ein. "Ich plädiere dafür, dass der Freistaat einen Sonderfonds Pflege auflegt. Wir dürfen diesen vulnerablen Bereich nicht alleinlassen." Konkrete Pläne dazu gibt es nicht, doch der Regierungsbeauftragte bringt einen dreistelligen Millionenbetrag ins Spiel, mit dem man Einrichtungen in Bayern kurzfristig durch die Krise helfen könnte. Erst vor wenigen Tagen hat Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ein eigenes Entlastungspaket für Unternehmen und Vereine in Höhe von einer Milliarde Euro angekündigt - warum also nicht auch die Pflege unterstützen, fragt Bauer.

Doch bislang zeigt die Regierung in dieser Frage mit dem Finger auf Berlin. Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) forderte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) neulich dazu auf, die Hilfen für Kliniken, Reha- und Pflegeeinrichtungen "zur Chefsache zu machen" und endlich Geld in die Hand zu nehmen. Von einem eigenen Programm in Bayern war nicht die Rede.

Doch die Zeit drängt, denn die Pflegekrise hat längst spürbare Folgen für Patienten und deren Angehörige. Viele Dienste nehmen aktuell keine neuen Pflegeaufträge mehr an, die Kosten für Plätze in Seniorenheimen drohen zu explodieren. Auch die Qualität bestehender Angebote leidet bereits. Wie Bettina Plettl berichtet, sind ihre Mitarbeiter inzwischen angewiesen, keine Gratisumwege mehr zum Arzt oder zur Apotheke zu machen, um etwa ein Rezept oder ein Medikament für die Patienten zu holen. Das sind nun private Zusatzleistungen, die extra bezahlt werden müssen. "Oft bleibt nicht mal mehr Zeit für einen Kaffee oder einen Plausch. Alles muss zack, zack, zack gehen." Plettl sagt das mit einer Mischung aus Bedauern und Verzweiflung.

Auch Peter Bauer, der Pflege- und Patientenbeauftrage des Freistaats, befürchtet, "dass die menschliche Nähe verlorengeht". Dabei sei diese ein wichtiger Bestandteil von guter Fürsorge. Und er warnt vor einer Entwicklung, die in der Debatte häufig keine Rolle spiele: Es seien vor allem Frauen, die zu Hause ein krankes oder altes Familienmitglied pflegen. Wenn nun professionelle Hilfe wegbreche, müssten sie ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihren Job aufgeben, um die Versorgung zu übernehmen. "Da ist der Weg in die Altersarmut schon vorgezeichnet", sagt Bauer. Laut einer am Dienstag veröffentlichten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin ist rund jede vierte pflegende Frau von Armut bedroht. Für Bauer geht es in dieser Krise nicht nur um die Pflege. Für ihn ist der Sozialstaat als Ganzes in Gefahr.

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