Europäische Kulturhauptstadt:Die Zukunft der Vergangenheit

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Ob Nürnberg Chancen auf den Titel Kulturhauptstadt Europas hat, entscheidet sich in wenigen Tagen. Eine Schlüsselrolle dürfte dabei der Umgang mit der monströsen NS-Kongresshalle spielen.

Von Olaf Przybilla

Wie das ist, einen Koloss wie die NS-Kongresshalle kulturell zu bespielen, das weiß wohl kaum jemand besser als Kathrin Mädler. Nürnberg wird sich in anderthalb Wochen einer Jury stellen müssen. Danach wird man wissen, ob die Stadt in die engere Auswahl kommt als Bewerber um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2025. Dass die Jury auch nach den Nürnberger NS-Wundmalen fragen wird, darauf stellt sich Oberbürgermeister Ulrich Maly ein. Was etwa aus dem Torso gebliebenen Ungetüm im Süden der Stadt werden soll? Womöglich ein Laboratorium für Kunst und Kultur.

Kultur in diesem NS-Monsterbau? Die Theaterregisseurin Mädler hat vor zehn Jahren etwas gewagt, was einem den Atem verschlagen hat. Sie inszenierte "Die Ermittlung" von Peter Weiss auf kontaminiertem Gelände, in den Hallen dieser Größenwahnruine. Wer die Inszenierung gesehen hat, wird deren Ende nicht wieder vergessen. Wie zum Schluss niemand applaudierte. Wie sich auch kein Darsteller verbeugte, sich die Premierenspannung einfach nicht legen wollte. Von Menschen mit Stableuchten wurde man hinausgeführt durch nicht enden wollende Gänge, die immer länger wurden, weil niemand mehr sprechen wollte nach dieser Premiere.

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Weiss hat in seinem Stück den Auschwitz-Prozess szenisch dokumentiert, als "Oratorium". Man stand also in den Eingeweiden eines geplanten Demagogie-Forums für bis zu 50 000 Besucher und hörte, wie ein Auschwitz-Arzt mitunter "beide Augen zugedrückt" haben will. Hörte, wie ein Angeklagter blökte: "Herr Staatsanwalt, ich weiß doch gar nicht, was man von mir will." Und vernahm einen KZ-Wärter, der sich gegen den Vorwurf verwahrte, wahllos in eine Menschenmenge geschossen zu haben - wahllos zu schießen, das sei seine Art nicht. Nicht alle Premierengäste waren in der Lage, diesen Stationenweg, eine Wanderung von Szene zu Szene, quer durch Katakomben des Wahns mitzugehen. Wer es doch schaffte, der wusste am Ende, dass man sich diesem Halbrund nicht entziehen kann. So nutzlos es ist.

Vor zehn Jahren wurde das Nürnberger Schauspielhaus im Zentrum der Stadt renoviert, das Ensemble zog in ein Ausweichquartier auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Dort wurde einer der Kopfbauten der NS-Kongresshalle zur Spielstätte umgebaut, die - seit das Ensemble zurück in der Stadt ist - inzwischen als Konzertsaal genutzt wird. Im kolosseumartigen Halbrund dagegen, das Mädler für ihre Inszenierung durchwandern ließ, tut sich wenig. Die Stadt nutzt es als Lager für Banales: Schulmöbel, Fahrzeuge. Weite Teile des Backstein-Monsters aber sind ungenutzt. Was sich nun ändern könnte. Die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas hat den Blick geschärft dafür, was möglich wäre in diesem Bau. Die Stadt plant, einen 15 000 Quadratmeter großen, tortenstückartigen Ausschnitt des Gebäudes zu untersuchen, um festzustellen, ob Ateliers in diesem Bau unterkommen könnten. Während Künstler in Nürnberg händeringend nach Raum suchen - auf dem AEG-Gelände und dem Quelle-Areal waren sie lediglich Gast auf Zeit - stehen in dem Koloss Tausende Quadratmeter leer.

Dass diese sich nicht ohne Aufwand in Künstlerräume verwandeln lassen, erschließt sich ohne Untersuchung. Strom gibt es dort und rohen Backstein, eine Heizung nicht, brandschützende Wände auch nicht. Weite Teile des Halbrunds mit seinen saalhohen Wandelgängen sind in erster Linie Treppenhaus. Für einen Fuhrpark des Technischen Hilfswerks mag das geeignet sein, auch für eine Firma, die sich dort einquartiert hat und mit Verkehrsschildern handelt. Aber für Künstler? Andererseits: Seit Quelle den Torso vor drei Jahrzehnten verlassen hat, stehen Lagerräume leer. Platz für Kultur gäbe es genug.

Schwer zu ertragen

Kathrin Mädler ist inzwischen Intendantin am Landestheater Memmingen, sie hat einiges um die Ohren. Von ihrer Inszenierung in der NS-Ruine indes weiß sie noch fast jedes Detail. Es war Juni damals, bei den Proben aber trugen die Schauspieler Mützen und Thermounterwäsche, weil die Wände dieses Kolosses so dick sind, dass im Inneren eine "Art ewige Kälte herrscht", erzählt Mädler. Bei den Proben bewegte sich das Team mit Fahrrädern übers Gelände, um die Wege irgendwie zurücklegen zu können. Bei der Hauptprobe wollte Mädler unterbrechen, nachdem den Schauspielern allerlei Fledermäuse um die Ohren flogen. Und dann gab es diesen Aufführungsabend, wo sie drinnen die Rechtfertigungssuada von KZ-Wärtern aufsagten - und draußen die "Münchner Freiheit" sentimentales Liedgut über die Szenerie legte. Die gaben da ein Freiluftkonzert. Die Texte vermischten sich.

Das Kongresszentrum der NSDAP sollte 50 000 Besuchern Platz bieten, die Architektur orientierte sich am Kolosseum in Rom. Der Nazibau blieb Torso, gilt aber als zweitgrößter erhaltener NS-Monumentalbau in Deutschland. (Foto: dpa)

Das alles war schwer zu ertragen, sagt Mädler, "aber es war meine wichtigste Arbeit". Man habe die Probentage in einer Mischung aus Kälte, Leere und verseuchter Geschichte verbracht, arbeitete im psychischen Grenzbereich und hatte jeden Tag ein Menetekel vor Augen, "diesen ewigen Gegner der Stadt". So abgründig die Arbeit war, so intensiv war sie auch. Ob Ateliers dort eine gute Idee wären? "Der Ort legt sich auf die Seele", diese Erfahrung habe sie gemacht. Andererseits hat Mädler das gemeinsame Arbeiten auf vergiftetem Terrain als eine "unfassbare künstlerische Herausforderung" empfunden. Und als eine mit Folgen. "Das Thema Nationalsozialismus lässt mich nicht mehr los", sagt sie.

Alexander Schmidt ist Historiker am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, er arbeitet also bereits in dem Riesenbau. Allerdings in einem der beiden ausgebauten, vergleichsweise überschaubaren Kopfbauten. Das Dokuzentrum wird derzeit erweitert, auch das dürfte vor der Kulturhauptstadt-Jury Mitte Dezember zur Sprache kommen. Aber Künstlerateliers in dem mit Abstand größten Baukörper auf dem NS-Parteitagsgelände?

Schmidt hält die Initiative für "überfällig". Immerhin stehen die oberen Geschosse der Ruine nahezu komplett leer und würden verfallen, wenn man sich baulich nicht um sie kümmert. Was das finanziell bedeuten kann, wenn monumentale NS-Ruinen bröckeln, das weiß man wohl kaum irgendwo besser als in Nürnberg. 80 Millionen Euro soll es kosten, die marode Zeppelintribüne zu sichern. Schmidt ist dafür, dies zu tun, als historischen Lernort hält er den Bau für unersetzlich. Aber er versteht auch, dass er als Historiker des Dokuzentrums überall angesprochen wird: so viel Geld für ein poröses NS-Wrack - eines zudem, das man nicht nutzen kann? Das Halbrund der Kongresshalle könnte man nutzen. Umso wichtiger, sagt Schmidt, es nicht vergammeln zu lassen.

Viele Pläne sind schon gescheitert

Wobei es schon etliche Anläufe gab, das Nazi-Trumm nicht mehr brachliegen zu lassen. Auch absurde. Fünf Jahre nach Kriegsende feierte Nürnberg das Stadtjubiläum in der Ruine, ein Café lockte mit dem Ausblick auf einen "sonderbaren Riesenbau". Von Nazis war da keine Rede mehr. Auch danach zeigte man sich bekümmert, die Investition von 82 Millionen Reichsmark nicht umsonst verschleudert zu haben. Ein Sportstadion, das war der Plan. Er scheiterte am Geld. Der Plan, dort ein Freizeitzentrum mit Disco und Luxusgeschäften in überdachten Ladenpassagen einziehen zu lassen, scheiterte an der Vernunft.

So sehr man darüber heute den Kopf schütteln mag: In Prora, auf der Insel Rügen, wird ein ähnlich kolossaler NS-Bau, das "Kraft-durch-Freude"-Seebad, zum Teil in Luxuswohnungen verwandelt. Gerade verglichen damit könne man dem Vorstoß von Kulturreferentin Julia Lehner, Ateliers in den Nürnberger Nazibau einziehen zu lassen, "nur ehrlich alles Gute wünschen", sagt Schmidt. Zumal Raumhöhe und Lichtverhältnisse für Künstler ideal wären. Geld aber müsste man schon in die Hand nehmen. Vor allem für Brandschutz.

Es ist Mitte der Woche, ein Mann mit roter Arbeitskladde in der Hand faltet sich vor dem Nürnberger Rathaus aus einer Limousine, offenkundig in Eile. Herr Maly? Anderthalb Wochen noch bis zur Vorentscheidung, man sei im Stress, sagt der OB. Er hat sich dieser Tage durch alle Bewerbungsbücher der sieben Konkurrenten gearbeitet. Und? "Zittau ist auch überzeugend", sagt Maly. Wird das was mit Nürnberg? Er sei nicht im Ansatz in der Lage, das selbst einschätzen zu können. Aber es wäre auch Quatsch zu leugnen, dass man sich Chancen ausrechnet. Momentan feile man an der Choreografie, aber zu einstudiert soll die Präsentation bitte nicht sein, es soll ja Platz für Spontaneität bleiben.

Auf welche Fragen die Nürnberger Delegation sich vorbereitet? Dass es wohl auch um den Umgang mit der Geschichte gehen wird, gerade mit der NS-Geschichte der Stadt, darauf stelle man sich schon ein, sagt Maly. Man glaubt es ihm anzusehen, dass er ziemlich sicher ist, darauf einleuchtende Antworten geben zu können.

© SZ vom 30.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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