Diskussionen über die Förderung der Grundschüler nach der jüngsten Pisa-Schlappe bestimmen Bayerns Bildungspolitik seit Wochen. Spekulationen gibt es zuhauf, und mit Spannung wird das Förderkonzept von Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) erwartet, das sie demnächst vorstellen soll. Geht es nach Simone Fleischmann, der Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), der traditionell die Grund- und Mittelschullehrkräfte vertritt, geht diese Debatte aber weit am Alltag der Schulen vorbei. Am Beispiel von 13 Grund-, Mittel- und Förderschulen zeichnete Fleischmann am Montag in München "die Realität" nach.
Demnach spielt die Frage, ob für mehr Mathematik und Deutsch lieber Englisch oder Religion gestrichen werden sollen, keine Rolle. Für Förderung ist keine Zeit, wenn Dutzende Stunden ersatzlos ausfallen, weil Lehrer fehlen: Offiziell sind im vergangenen Schuljahr 0,9 Prozent aller Schulstunden ersatzlos ausgefallen, der BLLV kommt auf deutlich höhere Werte von fünf oder auch acht Prozent in den exemplarisch untersuchten Kalenderwochen fünf und sechs. Vertretungsstunden oder das Zusammenlegen von zwei Klassen sind nicht eingerechnet. Von Qualität könne dann keine Rede sein, sagte Fleischmann, "die Vertretung machen Leute, die die Klasse nicht kennen oder gar keine Lehrer sind".
Newsletter abonnieren:Mei Bayern-Newsletter
Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.
Sabrina Neckov, Schulleiterin aus Schweinfurt, erzählte von einer Kollegin, die wochenlang mit Bronchitis und Lungenentzündung unterrichtete, weil sie keine Quereinsteiger vor ihre Klasse stellen konnte. "Ich wollte sie heimschicken, aber sie hat recht. Ich kann das keiner Nicht-Lehrkraft zumuten", sagte Neckov. In dieser zweiten Klasse können demnach 15 von 23 Kindern kein Wort Deutsch und haben Traumata aus Flüchtlingslagern in der Türkei oder der Ukraine. Die Schulleiterin einer Grundschule aus Ismaning erzählte, dass mehrere Lehrerinnen stundenweise zum Lückenstopfen an die Mittelschule fahren und sie es ohne eine pensionierte Lehrerin gar nicht schaffen würden.
Die Situation wird nicht an allen 2418 Grundschulen, 948 Mittelschulen und 352 Sonderpädagogischen Förderzentren im Freistaat so dramatisch sein. Aber gerade die Grund-, Mittel- und Förderschulen sind seit Jahren besonders vom Lehrermangel betroffen. Unter diesen Umständen sei an spezielle Förderung der Kinder nicht zu denken, erklärten die Schulleiterinnen beim BLLV. Förder- oder Inklusionsstunden fielen als Erstes aus, um den Normalbetrieb zu stemmen.
Es gebe eine "entscheidende Lücke" zwischen dem "was die Politik diskutiert und was vor Ort tatsächlich abgeht", sagte die BLLV-Präsidentin. Ohne Namen zu nennen, wurde sie sehr deutlich, wessen Ideen sie besonders satthat: Fleischmann verwahrte sich unter anderem gegen "Applauspolitik" und "Pressekonferenzen von Menschen, die keine Ahnung haben", wie es an den Schulen laufe. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte zuletzt im Januar am Rande der CSU-Fraktionsklausur vorgeschlagen, den Lehrermangel unter anderem durch Einschränkung der Teilzeitmöglichkeiten zu lindern, für mehr Deutsch und Mathematik am besten das Grundschulenglisch zu streichen, aber zugleich Religion zum Tabu erklärt. "Jetzt ist Schluss mit lustig, wir brauchen keine politisch-polemischen Aussagen, keine scheinbar einfachen Lösungen für Probleme", sagte Fleischmann.
Das Streichkonzert für mehr Deutsch und Mathematik lehnte sie ab. Die Kinder bräuchten ganzheitliche Bildung mit allen Fächern, vermittelt von Profis. Dass dieser Wunsch derzeit meist an fehlenden Lehrkräften scheitert, stellte Fleischmann nicht in Abrede. Ihre Lösung: Der Job müsse attraktiver werden. Dafür müsse das Piazolo-Paket" weg. 2020 hatte Stolz' Vorgänger Michael Piazolo (FW) die Teilzeit auf Antrag deutlich eingeschränkt und für alle Grundschullehrer Mehrarbeit angeordnet. In der Folge waren die Fälle von dienstunfähigen Lehrern deutlich angestiegen.
Dass Kultusministerin Stolz den Dialog sucht, Schulleiterinnen und Schulleiter als Experten lobt und es vermessen nennt, von München aus alles besser wissen zu wollen, kommt gut an bei den Lehrkräften. Schon bei der Präsentation ihrer Eckpunkte zum Pisa-Paket kündigte sie mehr Eigenverantwortung für Schulen an, die Schulleiter sollen entscheiden, woher die Zeit für mehr Mathe und Deutsch kommt. Entscheidend wird der Rahmen sein, in dem sie bestimmen dürfen. Details dazu muss die Ministerin nun vorlegen - und durchs Kabinett bringen.