Geschichte:Der Zeitzeuge der Zeitzeugen

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Leon Weintraub auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. 1944 wurde der Pole nach Auschwitz deportiert. (Foto: Stefan Hanke)

Elf Jahre lang verfolgt der Regensburger Fotograf Stefan Hanke ein Projekt gegen alle Widerstände: Er fotografiert 121 KZ-Überlebende. Über einen Mann, der über Grenzen ging und an seine Grenzen stieß.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Es gibt Momente, in denen Stefan Hanke die Welt nicht versteht. Oder sich zumindest weigert, sie verstehen zu wollen. Über elf Jahre hinweg hat sich der Fotograf auf den Weg gemacht, die Spuren von Menschen aufzusuchen, die Konzentrationslager überlebt haben. Hanke hat das Projekt selbst finanziert, es hat ihn an den Rand seiner Belastbarkeit geführt, in jeder Hinsicht.

Hanke will sich nicht beklagen, 68 seiner insgesamt 121 Bilder von KZ-Überlebenden sind derzeit im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände zu sehen, er sei dafür sehr dankbar, sagt er. Aber immer wieder bekomme er auch Fragen zu hören, die ihn fast wahnsinnig machten. Sie klingen immer anders, sind sich im Kern aber ähnlich, Fragen von Museen, Medien, Behörden. "Opfer? Muss das schon wieder sein?"

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Auf der anderen Seite glaubt Hanke, 55, beobachtet zu haben, wie das Thema Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit keineswegs unterrepräsentiert ist. Eine regelrechte "Hitler-Geilheit" nehme er momentan wahr, sagt er: "Hitlers Frauen, Hitlers gefährliche Waffen, Hitlers Verbündete, es nimmt kein Ende." Und natürlich finde er es richtig, den Nationalsozialismus in allen seinen Facetten abzubilden. Dazu aber gehören zuallererst die Opfer, davon ist Hanke überzeugt.

In den elf Jahren, die er sich auf die Suche gemacht hat nach KZ-Überlebenden, habe er sich viele Zweifler anhören müssen. Ob er das finanziell überstehe, als freier Fotograf ohne nennenswerte Sponsoren? Ob das überhaupt genug Menschen interessieren wird? Ob er sich nicht verrannt habe in seine Idee? Sie kamen von überall diese Fragen, auch aus der Familie, und Hanke will nicht behaupten, dass sie ihn ungerührt gelassen haben.

Aber dann kam eben auch dieses Päckchen an Weihnachten. Maria Gniatczyk, die in Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen interniert war, hat es ihm geschickt. Das Päckchen enthielt Oblaten. In Polen verschickt man an Weihachten Oblaten nur an die engsten Familienangehörigen, mit denen man an diesen Tagen nicht zusammen feiern kann. "Dieses Paket, das hat mich sehr berührt", sagt Hanke.

Maria Gniatczyk wurde am 29. März 1927 in Poznan in eine Geschäftsfamilie geboren. Ihr Vater hatte ein Laden für Hutmoden, zu fünft lebte man in einem großzügigen Haus. Nach Kriegsbeginn wurden die Gniatczyks nach Warschau zwangsumgesiedelt, in eine Zweizimmerwohnung. Um die Stadt noch vor dem Einmarsch der Roten Armee aus eigener Kraft von den deutschen Besatzern zu befreien, kam es im August 1944 zum nationalen Aufstand. Gniatczyk erledigte Kurierdienste für die Aufständischen, später versorgte sie Verwundete.

In Warschau traf Stefan Hanke Maria Gniatczyk. (Foto: Stefan Hanke)

Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde sie zusammen mit ihrer Mutter zunächst nach Auschwitz deportiert, danach nach Bergen-Belsen. Ihre Deutschkenntnisse retteten sie wohl, die wurden auch im KZ gebraucht. Gniatczyk überlebte das Lager, ihre Mutter starb zehn Monate nach der Befreiung aus dem KZ.

Für das Foto ging Hanke mit Maria Gniatczyk in eine Straße der Warschauer Altstadt, in der 1944 die Kämpfe des Aufstandes tobten. Innerhalb von zwei Monaten verloren dort mehr als 150 000 Menschen ihr Leben. Für die Ausstellung in Nürnberg hat Hanke je ein Zitat der Porträtierten ausgewählt, das für den Menschen und seine Geschichte steht. Bei Gniatczyk lautet es: "Wir Jugendlichen im Aufstand haben uns gewehrt, ja wir haben etwas gegen die Besatzer getan. Was aber haben die Kinder in Auschwitz getan, absolut nichts!"

2004 hat Hanke begonnen, nach KZ-Überlebenden zu suchen, anfangs nur in Bayern. Nach den ersten Begegnungen machte der Regensburger Fotograf eine Pause und arbeitete sich in die Literatur ein. Es klinge verrückt, sagt er, aber obwohl er sich für das Thema interessierte seit er 16 ist, habe er gemerkt, dass er zu wenig wusste über Lager-Jargon, über Deportationswege, die Konzentrationslager im Osten Europas. Meterweise stapelten sich die Bücher in seinem Büro. Erst als er sie gelesen hatte, traute er sich, weiterzumachen. "Man hat eine Verantwortung diesen Menschen gegenüber", sagt er. Da könne eine falsche Frage tiefe Wunden aufreißen.

Mit den ersten 30 Überlebenden Kontakt aufzunehmen, sei extrem schwierig gewesen, erzählt Hanke. Ein Fotograf aus Deutschland, da gehen Türen nicht automatisch auf. Das änderte sich, als die Porträtierten merkten, wie er arbeitet. Danach mussten Freunde ihn regelrecht stoppen, irgendwann. "Die Zeitzeugen sterben allmählich, klar, und man merkt, dass man zum Zeitzeugen der Zeitzeugen wird", sagt er. Wen also weglassen aus der Dokumentation des Überlebens? 2014 in Polen hatte Hanke einen schweren Verkehrsunfall, sein Auto war Schrott, seine Fotoausrüstung beinahe. Das habe er als Zeichen genommen. Schluss jetzt, nach 121 Porträts.

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Der bewegendste Moment in den elf Jahren? Hanke würde sich da ungern festlegen. Aber der Augenblick, als er mit Leon Weintraub auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg stand, der stehe schon für dieses Projekt, sagt er. Weintraub wurde 1926 in Polen geboren, 1939 wurde seine Familie ins Ghetto Litzmannstadt zwangsumgesiedelt. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, im Februar 1945 in einem Todesmarsch ins KZ Flossenbürg getrieben.

Die französische Armee befreite ihn schließlich bei Donaueschingen, er wog nur noch 35 Kilogramm. Weintraub wurde Arzt. Hanke porträtierte ihn vor der Nürnberger Zeppelintribüne, auf der Hitler zu den NS-Massen sprach. Dort sagte Weintraub zu ihm: "Ich fühle mich nicht als Opfer, sondern als Sieger."

Oder der Satz von Zofia Posmysz. Hanke traf sie am Morgen, nachdem ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen worden war. Er suchte mit ihr eine Baracke des ehemaligen Frauenlagers von Auschwitz auf, wo sie mehr als zwei Jahre lang interniert war. Auf dem Foto ist auf ihrem linken Arm die Tätowierung ihrer ehemaligen Häftlingsnummer zu sehen. Posmysz sagte zu Hanke: "Am Anfang konnte ich es nicht nachvollziehen, einen Orden aus Deutschland dafür zu bekommen, dass ich erzähle, was Deutsche gemacht haben."

Nur eines bereue er, sagt Hanke, nach den elf Jahren. Er habe zu spät angefangen mit seinem Projekt. Jüdische Überlebende traf er, Sinti und Roma, andere NS-Verfolgte. Homosexuelle KZ-Überlebende anzutreffen, gelang ihm nicht mehr. Als sie in Konzentrationslagern interniert wurden, waren sie bereits Erwachsene. "Heute wären sie über hundert Jahre alt", sagt Hanke.

Die Ausstellung "KZ überlebt" ist noch bis zum 6. Januar 2017 im Nürnberger Doku-Zentrum zu sehen. Das gleichnamige Porträtbuch ist 2016 im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, erschienen.

Zofia Posmysz steht am Morgen nach der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes in einer Baracke des ehemaligen Frauenlagers von Auschwitz-Birkenau. (Foto: Stefan Hanke)
© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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