Behindertenpolitik des Bezirks von Oberbayern:Von der Behörde behindert

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Wenn Lukas Hernicht sich äußern will, tippt er die Worte in einen Sprach-Computer. Seine Mutter hilft ihm. (Foto: Nina von Hardenberg)

Lukas Hernicht kann weder sprechen noch richtig schreiben. Trotzdem will er unbedingt seinen Hauptschulabschluss machen. Mathe und Deutsch sind für ihn keine Hürde, wohl aber die schleppend langsame Verwaltung des Bezirks von Oberbayern.

Von Nina von Hardenberg

"Bis Freitag bei Deutsch", sagt die Lehrerin im Onlineunterricht zum Abschied. Lukas Hernicht zuckt zusammen. Freitag ist kein Deutsch. Die Lehrerin hat sich vertan. Als sein älterer Bruder die Geschichte am Nachmittag in der Küche der Familie in München erzählt, nickt er wild in Richtung Kühlschrank. Dort hängt sein Stundenplan, der Beweis: Freitag kein Deutsch. Sein Bruder, der Vater und die Mutter wissen solche Gesten zu deuten. Sie verstehen ihn, obwohl er kein Wort sprechen kann. Die meisten anderen Menschen verstehen ihn nicht. Das ist sein Problem.

"Ich heiße Lukas Hernicht und bin 21 Jahre alt. Seit meiner Geburt habe ich eine schwere körperliche Behinderung. Man nennt das Cerebralparese", so beginnt eine Rede, die Hernicht kürzlich verfasst und mit seinem Sprachcomputer bei einer Veranstaltung der Behindertenhilfe Politikern vorgetragen hat. Sein Vater hatte ihn dorthin mitgenommen. Der junge Mann erzählte, wie versperrt ihm die Welt bleibt, weil er zwar alles versteht, sich aber ohne Hilfe kaum ausdrücken kann.

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Statt Worten kommen nur Laute aus seinem Mund. Und wenn er wie an diesem Nachmittag von sich selbst erzählen will, muss er mit dem Handrücken seiner nach hinten verkrümmten Hand die richtigen Buchstaben auf dem Sprach-Computer erwischen. Das ist mühsam und dauert lange, selbst wenn seine Mutter ihm die Hand führt. Seine Augen aber leuchten, als er es geschafft hat. Man merkt schnell, dass er ein neugieriger junger Mann ist.

"Vielleicht hat von Ihnen jemand eine Idee, wie er mir und anderen unterstützt sprechenden Menschen helfen kann, mittendrin zu leben." So endete sein Vortrag, der eigentlich eine Anklage war. Die Politiker reagierten betroffen, erzählt der Vater. Lukas selbst wirkt an diesem Nachmittag aber nicht bitter. Er juchzt, als er den Text noch mal vorspielen kann. So was macht ihm Spaß.

Auch die Eltern müssen dann lächeln. Dabei sind sie verzweifelt. Seit ihr Sohn mit der Förderschule fertig geworden ist, suchen sie einen Platz für ihn in der Welt, wo er arbeiten oder lernen und an Gemeinschaft teilhaben kann. Sie haben eine Onlineschule gefunden. Dort darf er seinen Hauptschulabschluss mit Hilfe von Assistenten nachholen. An der Förderschule hatte das nicht geklappt. Sein Bruder und eine pensionierte Grundschullehrerin unterstützen ihn dabei. Nur: Ob sie dieses Modell finanzieren können, wissen sie auch ein Jahr nach Schulbeginn immer noch nicht.

Lukas Hernicht braucht Menschen, die ihm beim Bedienen seines Tablets helfen. Genauso wie er auch beim Anziehen, Zähneputzen und beim Essen Unterstützung braucht. "Ich benötige Assistenz täglich von 09.00 Uhr bis 18.00 Uhr", steht in seinem Antrag auf Übernahme der Kosten, den der Vater im Juni 2022 beim Bezirk von Oberbayern eingereicht hatte. Danach warteten sie Monat für Monat. Die Antwort aber kam erst im Dezember. Da lief der Unterricht schon seit drei Monaten.

Der Bescheid selbst liest sich so kompliziert, dass man sicher mehr als den von Hernicht angestrebten Hauptschulabschluss braucht, um ihn zu verstehen. Das Pflegegeld wird darin gekürzt und mit Zahlungen der Krankenversicherung verrechnet. Dafür darf Hernicht täglich für 7,73 Stunden Betreuer anstellen, allerdings nicht so, wie sich die Familie in ihrer Not inzwischen organisiert hat. Den Bruder nämlich, der sein Studium unterbrochen hat, um zu helfen, kann er nicht abrechnen. Familie zählt nicht. Der Vater legte Widerspruch ein. So warten sie immer noch auf eine Entscheidung, inzwischen seit 16 Monaten.

Bei dem Besuch in ihrer Küche wirken die Hernichts wie eine Familie, die zusammenhält und sich nicht leicht unterkriegen lässt. Ihr Sohn Lukas sei trotz aller Einschränkungen immer dabei gewesen, erzählt die Mutter: Beim Schlittenfahren zogen sie ihn mit auf den Berg. Irgendwie ging es. Das letzte Jahr aber hat sie mürbe gemacht: die Unsicherheit, die Warterei und dieses Gefühl, von den Behörden nicht gehört zu werden.

Nach der UN-Behindertenrechtskonvention haben alle Menschen das Recht, am Leben in Gemeinschaft teilzuhaben - egal welche Einschränkungen sie haben. Sie dürfen dafür unter anderem die Hilfe von Assistenzkräften in Anspruch nehmen. Dieses Recht auszuleben ist jedoch schwierig, wenn die Behörde nicht das dafür nötige Geld bewilligt. In Oberbayern kommt das öfter vor, sagen Betroffene und Helfer.

Der Streit um einen Fahrdienst im Wert von 46,30 Euro beschäftigte die Gerichte sechs Jahre lang

"Katastrophal lange warteten Betroffene auf ihre Bescheide", berichtet Konstanze Riedmüller, die bei der Stiftung Pfennigparade unter anderem für die Beratung von körperbehinderten Menschen zuständig ist. Der Bezirk von Oberbayern gibt die zu langen Bearbeitungszeiten im Fall von Familie Hernicht auf Rückfrage selbst zu. "Wir bedauern es sehr", sagt eine Sprecherin. Als Grund für die Verzögerung gibt sie Personalausfälle an.

Bezirksrat Klaus Weber kennt die Personalnot der Behörde. Die Verwaltung könne trotzdem schneller sein, wenn sie nicht immer wieder neue Nachweise von den Menschen fordere. "Es herrscht ein großes Misstrauen gegenüber den behinderten Menschen, dass die betrügen könnten."

Ende September hat der Linken-Politiker eine Gruppe Betroffener ins Münchner Rathaus geladen. Thema: "Behindertenpolitik in Oberbayern: Inklusion gescheitert - Demokratie beerdigt." Man trifft dort einen Rollstuhlfahrer, der mit dem Bezirk gestritten hat, ob er das Geld für den Besuch seiner Mutter erstattet bekommt. Besuch der Familie gehöre nicht zur gesellschaftlichen Teilhabe, fand man beim Bezirk. Ein weiterer Rollstuhlfahrer berichtet, dass der Bezirk ihm einen Fahrdienst von 46,30 Euro verweigerte, der notwendig war, um sein Auto in die Werkstatt zu bringen. Dieser Fall beschäftigte die Gerichte sechs Jahre lang.

Ein neues Verfahren könnte bald hinzukommen. Harald Hernicht hat dem Bezirk eine Untätigkeitsklage angedroht. Er sei Richter, und damit quasi Teil des Systems, sagt der Vater. Im letzten Jahr aber sei sein Glauben an diesen Staat ganz schön erschüttert worden. Es war das Jahr, in dem sein Sohn mit der Förderschule fertig wurde. Und in dem sie viele Einrichtungen fragten, und doch keinen guten Platz für ihn fanden. Für die Behindertenwerkstätten ist er körperlich zu stark eingeschränkt. Die Förderstätten, in denen stärker körperlich und geistig behinderte Menschen betreut und gepflegt werden, ächzen unter Personalmangel und sind heillos ausgebucht. Lukas Hernicht hätte sich dort auch furchtbar gelangweilt, glauben seine Eltern.

Die Online-Schule, die er jetzt besucht, ist ihre eigene kreative Notlösung. Es könnte eine gute sein: Lukas Hernicht ist zum ersten Mal in seinem Leben schulisch gefordert. Statt wie in der Förderschule jedes Jahr erneut das Eichhörnchen durchzunehmen, liest er jetzt "Die Welle" und rechnet Quadratfunktionen. Seine Augen blitzen stolz, als die Mutter davon erzählt. Auch der Bezirk von Oberbayern könnte zufrieden sein, schließlich spart er Geld, wenn Behinderte ihr Leben selbst organisieren, statt in ein Heim zu gehen. Mehr als ein Jahr läuft der Onlineunterricht nun schon. Familie Hernicht aber weiß immer noch nicht, wie viel Geld sie eigentlich dafür ausgeben darf.

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