Wahlrecht von Menschen mit Behinderung:"Dann habe ich meine Eltern rausgeschickt"

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2019 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Wahlausschluss von Menschen mit geistiger Behinderung für verfassungswidrig. Doch die Skepsis, ob sie überhaupt in der Lage sind, eine Wahlentscheidung zu treffen, reicht manchmal bis in die eigene Familie. (Symbolbild) (Foto: Catherina Hess)

Erstmals durften Menschen mit geistiger Beeinträchtigung den Bundestag wählen. Doch selbst in der eigenen Familie werden die Wahlentscheidungen immer wieder angezweifelt.

Von Dietrich Mittler, Schwabmünchen

Für Freddy Heinbach gibt es da überhaupt keinen Zweifel: Bei der Bundestagswahl am Sonntag hat er seine zwei Kreuze an der richtigen Stelle angebracht. Erststimme, Zweitstimme - passt, alles perfekt. "Wenn ich was mache, dann mache ich es gründlich, und da lasse ich nix aus", sagt Heinbach (Name geändert). Nix auslassen, das hieß bis zum Freitag: An jedem Wahlstand die Flyer einzusammeln, sie am Abend mit dem Vater durchzusprechen und selber noch im Internet zu recherchieren. Etwa: Wie ernst nimmt eine Partei den Umweltschutz? Wie wichtig sind ihr die Rechte von Menschen mit Behinderung? Und: Was unternimmt sie gegen die Diskriminierung von Homosexuellen? Freddy Heinbach, selbst gerade in der Coming-Out-Phase, wollte es genau wissen.

Heinbach fand 2015 seinen Platz in einer der Montagegruppen der Ulrichswerkstätten Schwabmünchen. Bei der zurückliegenden Bundestagswahl im September 2017 durfte der 25-Jährige noch nicht teilnehmen - das Wahlrecht schloss seinerzeit Menschen aus, die aufgrund ihrer geistigen Beeinträchtigung unter Betreuung standen. 2019 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Wahlausschluss von Individuen wie Freddy Heinbach für verfassungswidrig. Es gehe nicht an, dass diesem Personenkreis "das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat dauerhaft entzogen wird".

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Erstmals wählen durften unter Betreuung stehende Menschen noch im selben Jahr bei der Europawahl. Wie viele von ihnen aktuell in Bayern wahlberechtigt sind, dazu lagen dem mit dem Betreuungsrecht befassten Justizministerium am Freitag "keine aktuellen Daten" vor. Holger Kiesel, der Behindertenbeauftragte der Staatsregierung, ist sich sicher: "Bei dieser Bundestagswahl waren es im Freistaat rund 19 000, in ganz Deutschland gut 85 000." In seine Freude darüber mischen sich, wie Kiesel sagt, "große Sorgen". Am meisten belaste ihn "die Skepsis bestimmter Parteien und Politiker, ob Menschen mit geistiger Behinderung überhaupt in der Lage sind, eine ausgewogene Wahlentscheidung zu treffen".

Kiesel hat da nicht die geringsten Zweifel - zumal es nicht nur von seiner Seite her Informationsmaterialien gibt, die in leichter Sprache erklären, worauf es bei einer Wahl ankommt. Letztlich könne auch niemand in diesem Land darüber urteilen, "wann eine Wahlentscheidung von anderen vernünftig ist - und wann nicht."

Und doch passiert genau das immer wieder, selbst in der eigenen Familie. Katja Weh-Gleich, die Leiterin der Ulrichswerkstätten in Schwabmünchen, weiß von einem jungen Betreuten, der nach einer Informationsveranstaltung der Einrichtung gern zur Bundestagswahl gegangen wäre. Doch das verbot ihm der Vater. Heinbach kann von seinem Vater anderes berichten. "Mach dein Ding", habe der zu ihm gesagt. "Als ich zum ersten Mal wählen durfte, hat mir mein Papa geholfen", erinnert sich Heinbach. Beim Wählen steht Menschen wie ihm das Recht auf Assistenz zu - im Sinne von Handreichungen. In der Wahlkabine habe sein Vater gesagt: "Ich schau jetzt weg, und du kreuzt dann das an, was du für richtig findest."

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Ramona Schuberth (Name geändert), sie ist ebenfalls in einer der Montagegruppen in Schwabmünchen tätig, wollte bei dieser Bundestagswahl aber ganz auf sich allein gestellt sein. Sie lebt zuhause bei den Eltern. Im Esszimmer begutachtete sie die Briefwahl-Unterlagen. "Dann habe ich meine Eltern rausgeschickt", sagt sie. Während sie das erzählt, blitzen ihre Augen auf. "Ich hab mich schwer getan beim Wählen, weil mich mein großer Bruder die ganze Zeit vorher beeinflussen wollte. Das stört!" Heraus kam eine Bauchentscheidung: Sie habe Kreuzchen bei einer Partei gemacht, "die schon länger im Bundestag ist".

Viele geistig beeinträchtigte Menschen nutzen die Briefwahl. (Foto: Catherina Hess)

Christina Henrichsen (Name geändert) ist wie Schuberth 22 Jahre alt. Sie lebt abwechselnd in einem Wohnheim und bei ihrem Vater. Den liebt sie innig, doch bei politischen Diskussionen gab es jüngst Differenzen: "Mein Papa interessiert sich auch für Parteien, die die Ausländer raushaben wollen", sagt sie. Für sie komme das nicht in Frage. "Die Leute sind so wie wir. Wenn wir nach Mallorca kommen und Urlaub machen, dann sind wir dort ja auch Ausländer", sagt sie. Und überhaupt: "Zu den Leuten, die arm sind und zuhause Krieg haben, da kann man nicht einfach sagen, die sollen zurückgehen." Im Gegensatz zum Vater entschied sich Henrichsen für die Briefwahl. "Ist eh gesünder wegen Corona", sagt sie. Papa sei ins Wahllokal gegangen.

Immer wieder müssen die beiden jungen Frauen um die richtigen Worte ringen. Bei Henrichsen kann es sehr lange dauern, bis sie sich wirklich sicher ist, das auszudrücken, was sie sagen will. Was beunruhigt sie am meisten, wenn sie die Nachrichten im Radio oder im Fernsehen verfolgt? "Rassismus - dass Menschen sagen, Menschen mit dunkler Haut passen nicht in unsere Welt", erklärt sie nach einer Weile. Wer, der ihr erstmals begegnet, würde ihr auf Anhieb solche Aussagen zutrauen?

"Wir haben bei den letzten Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene gegen alle Innenminister gekämpft, als es um das Wahlrecht von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen ging", sagt die frühere Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU). Als Vorsitzende der Lebenshilfe in Bayern ließen Stamm und ihre Verbündeten jedoch nicht locker. Holger Kiesel, Bayerns Behindertenbeauftragter, will es indes beim jetzigen Erfolg nicht belassen. "Politische Teilhabe endet für Menschen mit Behinderung doch nicht beim Wählengehen", sagt er.

© SZ vom 27.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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