Klarer Fall für den Denkmalschutz: Das Werk Wolfsburg ist ein Monument der Industriegeschichte. Gemauerte Kraftwerksschlote und Ziegel-Fassaden erinnern an die Ursprünge von 1938. Hier wurde der KdF-Wagen aus der Taufe gehoben, nach dem Krieg mobilisierte er als VW Käfer die Massen. Momentan fragen sich die Produktionsplaner allerdings, welche Zukunft der Traditionsstandort hat. Die pittoresken Werkshallen in der Größe von Monaco haben auf moderne Materialströme ungefähr die gleiche Wirkung wie verwinkelte Altstadtgassen. Dass hier täglich rund 3800 VW Golf, Sportsvan, Touran und Tiguan vom Band laufen, ist eine Meisterleistung der Logistiker.
Was passiert aber, wenn nicht nur die Fabrik, sondern auch die Verbrennungsmotoren mittelfristig im Industriemuseum landen? Kann der VW-Stammsitz zum Symbol eines Neustarts werden?
Öko-Innovationen, die kaum einer bemerkte
In Wolfsburg wird umgebaut. Weniger in den Werkshallen als in den Führungsetagen. Bisher galt dort das Adenauer-Motto: Keine Experimente! Deshalb laufen Elektroautos und Plug-in-Hybride von demselben Band wie die Vollgas-Ikone Golf GTI oder Diesel- und Erdgasfahrzeuge. Das spart Entwicklungs- und Produktionskosten, weil die technischen Eckpunkte und der 60-Sekunden-Takt für alle Modell- und Antriebsvarianten gleich sind. Mit einem Kraftakt hat der frühere Konzern-Boss Martin Winterkorn diesen Modularen Querbaukasten (MQB) durchgesetzt. Für "New Volkswagen", also die neue Strategie bis zum Jahr 2025, suchen seine Nachfolger einen emissionsfreien Traumwagen, der in die MQB-Fertigung passt.
"Wir wollen der umweltfreundlichste Autohersteller der Welt werden", diese Devise hatte Winterkorn schon 2009 ausgegeben: In seiner Strategie "18 plus" sollte das "plus" für mehr Unternehmertum, mehr Synergien und für mehr Ökologie stehen. Doch im bisherigen MQB-Korsett konnten sich die alternativen Antriebe nicht richtig entfalten. Die elektrischen Öko-Innovationen versteckten sich hinter den bekannten Fassaden von Golf & Co, so dass sie kaum jemand bemerkte: Lediglich 55 000 Elektrofahrzeuge und Plug-in-Hybride sind seit 2014 in Wolfsburg entstanden.
Eine Million Elektro- und Hybridautos pro Jahr
Mit einem Flottendurchschnitt von etwas mehr als 120 Gramm CO₂ pro Kilometer schneidet Volkswagen heute kaum besser ab als Premiummarken wie BMW und Mercedes - und deutlich schlechter als Hauptkonkurrent und Hybrid-Pionier Toyota. Nur mit Mühe werden die Wolfsburger mit ihrer jüngsten SUV-Offensive die europäischen Emissionsziele von 95 g/km bis zum Jahr 2021 erreichen.
VW braucht eine Strategie über die fossilen Auslaufmodelle hinaus, die bei einer breiten Schicht von Kunden auch wirklich ankommt: "Im Jahr 2025 wollen wir mit allen Konzernmarken eine Million Elektroautos und Hybridfahrzeuge pro Jahr verkaufen", sagt VW-Vertriebsvorstand Jürgen Stackmann und ergänzt: "Das ist die spannendste Aufgabe meiner Laufbahn, eine große Marke wie VW neu auszurichten."
Neu ist in Wolfsburg vor allem der Mut zum Risiko. Statt spät in neue Marktsegmente einzusteigen und die Wettbewerber dann von hinten aufzurollen, ist jetzt Innovationsführerschaft gefragt. "Bei der Elektromobilität herrscht große Unsicherheit in der Branche. Da hilft kein Blick in den Rückspiegel, sondern nur ein Sprung ins Unbekannte", so der Vertriebschef.
Einen Kultur-Schocker aus Wolfsburg wird es trotzdem nicht geben. Auch in Zukunft will VW nicht negativ polarisieren und weiterhin eine breite Zielgruppe von 18 bis 80 ansprechen. "In Europa sind die VW-Kunden im Schnitt 53 Jahre alt, in China sind sie 28 Jahre alt und leben meist in Ballungszentren. Diese Generation erwartet nicht nur ein ökologisches, sondern vor allem ein cooles Auto mit modernster Technik", ist Jürgen Stackmann überzeugt.
VW sucht die Ikone des 21. Jahrhunderts
Dass China als größter VW-Absatzmarkt derzeit auf Elektromobilität und automatisiertes Fahren umschwenkt, hilft bei der Neuausrichtung ebenso wie die digitale Revolution bei knopflosen Bediensystemen und dem vernetzten Fahren. Die neue VW-plus-Strategie will alles in einem Ökosystem integrieren: Mobilität als Rundum-sorglos-Paket für Leute, die lieber auf ein Display als auf Knöpfe drücken, Tankstellen doof finden und sich von ihrem Auto auch mal chauffieren lassen.
Solche Themen liegen momentan im Trend. Die Kunst besteht darin, "New Volkswagen" ein erkennbares Gesicht zu geben. Nach dem Käfer und dem Golf sind die Wolfsburger auf der Suche nach einer neuen Ikone für das 21. Jahrhundert. Der erste Versuch zu Anfang dieses Jahres ging schon mal schief. Mitten in der größten Krise der VW-Geschichte stellte Herbert Diess eine Studie vor, die noch zu Zeiten Winterkorns entstanden war. Bei seiner Publikumspremiere auf der Computermesse CES floppte der pummelige Minivan von 4,60 Meter Länge. Kein Wunder, denn der Budd-e verkörpert weder die schlanke Eleganz des seligen Bullis oder Sambabusses noch die visionäre Kraft einer neuen Designsprache. Mit einer Lounge-Landschaft und einem Riesenbildschirm anstelle des klassischen Cockpits im Auto lässt sich in Las Vegas noch keine Aufbruchstimmung erzeugen.
Die Batterien sollen bis zu 500 km Reichweite ermöglichen
Unter dem unsportlichen Äußeren des Budd-e steckt eine komplett neue Antriebsplattform namens MEB: Der modulare Elektrobaukasten soll die Produktion diverser E-Mobile so einfach machen wie das Brezelbacken. "Wir wollen 2019 beim Preis eines MEB-Fahrzeugs auf Augenhöhe mit einem weiterentwickelten Golf-Diesel sein. Das wird nur möglich sein, wenn wir die Kostenvorteile einer Standardbatterie in hohen Stückzahlen nutzen", erläutert Frank Welsch.
Dem neuen VW-Entwicklungsvorstand zufolge soll die Standardbatterie auf 400 Kilometer Reichweite ausgelegt werden. Der skalierbare Akku lässt sich auf eine Kapazität für 500 Kilometer und mehr ausbauen. Der aktuelle e-Golf kommt bestenfalls 200 Kilometer weit. Ab Ende des Jahres erhöht sich sein Radius dank eines neuen Zelltyps mit 37 statt 24 Amperestunden auf 300 Kilometer. Viel schwerer als die Batterie des e-Golf (320 kg) soll der MEB-Standardakku übrigens auch nicht sein.
Außer mit flüsterleisem Fahren werben die neuen Stromer auch mit mehr Platz um Akzeptanz. Das Package - perfekt genutzter Raum - soll den Golf zum rollenden Wohnzimmer machen. Schon seit Jahrzehnten träumen Entwickler von einem Batterieblock auf Rädern. Aktuell quetschen sich die Hochvoltspeicher aus Platzmangel in jede Nische des e-Golf. Beim MEB sollen relativ große Batteriemodule, die sich kostengünstig produzieren und verkabeln lassen, das Maß aller Dinge sein. Der Verzicht auf einen Kardantunnel erlaubt einen durchgehend flachen Fußboden. Mehr Kniefreiheit gibt es sowieso, da ein Elektromotor an der Vorderachse kleiner baut als ein Verbrenner mit Getriebe und Abgasnachbehandlung. Zehn Bonus-Zentimeter schafft die komplette Integration des Heiz- und Klimageräts in den Vorderwagen. Im Vergleich zu einem konventionellen Antrieb bietet ein gut gemachter Stromer den Passagieren also das Platzangebot der nächsthöheren Fahrzeugklasse.
Wird der MEB zum echten Volks-Tesla? Können die Wolfsburger tatsächlich ein massentaugliches E-Erstauto mit 400 Kilometer Reichweite zum Preis von rund 30 000 Euro auf den Markt bringen? Das Know-how in der Großserienfertigung und die hohe Qualität, die Tesla noch nachweisen muss, sind am Mittellandkanal gelebte Praxis.
2025 soll jeder zehnte VW elektrisch fahren
Verbesserungswürdig ist die Fertigungszeit: Während ein Golf im Schnitt in 22 bis 23 Stunden produziert wird, ist für einen e-Golf eine Stunde zusätzlich nötig. Die Kunst besteht darin, das MEB-Chassis so einfach aufzubauen, dass es konventionelle Fahrzeuge auf dem Fließband überholen kann. Damit ließe sich genauso Geld sparen wie mit der Umstellung des Batteriewerks Braunschweig von der Klein- auf die Großserie. Selbst über eine Zellfertigung mit norddeutschem Windstrom wird in Niedersachsen diskutiert. Ohne weitere Automobil-Partner und staatliche Förderung werde es aber keinen VW-Alleingang geben, lassen die VW-Vorstände durchblicken.
Auch wenn 2025 erst jedes zehnte Konzernauto elektrisch fährt und die Hälfte davon Plug-in-Hybride sein werden: Der Einstieg von VW wird den reinen Stromern zum Durchbruch verhelfen. Gerade weil die Wolfsburger nicht nur Nischenmodelle, sondern SUV, Vans, Limousinen und Stufenheck-Modelle elektrifizieren wollen. Mit aller Macht will VW nach dem Diesel-Skandal wieder als umweltfreundliche Marke wahrgenommen werden.
Nicht ganz zufällig war das Formel-E-Rennen am vergangenen Wochenende in Berlin von VW-Führungskräften gut besucht. Seit eineinhalb Jahren engagiert sich Volkswagen als Sponsor des Teams Abt Schaeffler. "Wir lernen in der Formel E ständig dazu und haben schon bei der Rallye-Weltmeisterschaft gezeigt, dass wir in kürzester Zeit an die Spitze fahren können", sagt Jürgen Stackmann. In der Branche gilt es als offenes Geheimnis, dass die Wolfsburger mit eigenen Elektro-Flitzern weltweit an den Start gehen wollen.