Hauptbahnhof München:So haben Zaungäste die Anti-Terror-Übung erlebt

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Abgeschirmt von den Blicken Neugieriger spielt die Polizei am Hauptbahnhof ihr Schreckensszenario durch. Beklemmend ist das für die Zaungäste dennoch.

Reportage von Martin Bernstein

Wegen eines Feuerwehreinsatzes müsse der S-Bahn-Halt unter dem Hauptbahnhof derzeit entfallen, meldet die Bahn um 0.20 Uhr. Es komme zu "Beeinträchtigungen". Dass allerdings das, was da einige Meter unter den Füßen der Passanten, Hotelgäste und Schaulustigen in der Arnulfstraße zur selben Zeit passiert, nichts mit einem gewöhnlichen Feuerwehreinsatz zu tun hat, ist nicht zu überhören.

Gellende Schreie tönen aus dem abgeriegelten Zwischengeschoss herauf auf die Straße, immer wieder knallen Schüsse. Die erschreckende Klangkulisse wird unterlegt von einem auf- und abschwellenden Heulton. Eine Stimme vom Band ruft zur Räumung des Bahnhofs auf: "It is necessary to evacuate the station." Und: "Bitte unterstützen Sie Hilfsbedürftige." Doch niemand kommt an die Oberfläche. Stattdessen: wieder Schüsse, Schreie, Sirenen.

Polizeiübung "Lelex"
:Dramatische Szenen am Hauptbahnhof

Mehr als 2000 Polizisten und Rettungskräfte haben in München einen Katastrophenfall geprobt - streng nach Drehbuch.

Seit Monaten haben die Verantwortlichen an diesem Drehbuch gefeilt. So realitätsnah wie möglich sollte die Großübung "Lelex" ausfallen. Und das bedeutete: Keine geschlossenen Einheiten, die irgendwo in Bereitschaft auf ihren Einsatz warten - diejenigen Beamten, die in dieser Aprilnacht tatsächlich Dienst hatten, müssen die Herausforderung bewältigen. Freilich ohne die reale Sicherheit Münchens zu gefährden. Für jeden Polizisten, der wegen "Lelex" ausrücken musste, sollte sofort ein Kollege einspringen.

Auch das Landratsamt München, die Deutsche Bahn und die Münchner Verkehrsgesellschaft waren eingebunden. Es würde geschossen werden - mit Platzpatronen. Ihre scharfe Munition mussten die eingesetzten Beamten zum Beginn der Übung abgeben. Tote und Verletzte würden zu sehen sein, von 400 Polizeischülern gespielt, die mit Kunstblut geschminkt worden waren.

Schließlich sollte nicht nur die Bekämpfung der Attentäter simuliert werden, sondern auch die Versorgung der Verletzten, von der "taktischen Medizin" durch die Polizei noch am Anschlagsort über die Versorgung durch Feuerwehr und Rettungsdienste an einer Verwundeten-Sammelstelle an der Paul-Heyse-Unterführung bis zur Aufnahme in Krankenhäuser. Die Kliniken der Universität waren in die Übung eingebunden. Die Angreifer, die am Ende der Übung alle als "ausgeschaltet" - also kampfunfähig oder tot - galten, wurden von erfahrenen Einsatztrainern der Polizei gemimt.

Als in der Nacht auf Mittwoch die Schüsse im Hauptbahnhof fallen, eilt eine Frau mit Rollkoffer im Laufschritt durch die schmale Passage, die von den Absperrungen auf der Arnulfstraße freigehalten wird. Eine Passantin, keine Statistin. Denkt sie an einen Ernstfall? Welche Bilder wecken die Geräusche aus dem Untergrund in ihrem Kopf? Wieder eine Salve. "Großer Zirkus", sagt ungerührt ein Mann, der rauchend vor einem der Lokale an der Straße steht, die Hände in den Taschen vergraben.

Um einen Treppenabgang, der von Polizisten bewacht wird, haben sich Zaungäste versammelt, viele haben Mobiltelefone in den Händen. Er habe von der Übung gelesen, erzählt ein junger Mann, deshalb sei er eigens hergefahren. Andere, gerade auf dem Rückweg zu ihrem Hotel, schauen sorgenvoll - oder tun so, als würden sie den Lärm überhören. "It's a simulation", erklärt ein Mann einem anderen.

Eine Stunde vor den Schreien aus dem Bahnhofsgebäude hat dort noch nicht viel auf die Großübung hingedeutet. Die Absperrungen sind zwar schon seit dem frühen Abend aufgebaut. Und wer hinüberschaut über die noch teilweise offene Arnulfstraße, der kann größere Gruppen zumeist jüngerer Menschen - die Polizeischüler, die als Komparsen auftreten werden - im Inneren des Bahnhofs neben der Wache der Polizeiinspektion 16 verschwinden sehen. Die Menschen, die vor den beiden Polizisten an der Absperrung landen, haben dafür keinen Blick. Mit dem Radl will der eine durch. "Geht nicht mehr. Alles gesperrt." Der andere fragt nach seinem Auto, das stehe nämlich im Parkhaus. "Vielleicht versuchen Sie's anders herum?" Ein Dritter möchte zur Tram-Haltestelle. "Hier fährt jetzt länger keine Straßenbahn. Da müssen Sie dort hinter. Und irgendwo soll es auch einen Bus geben." Der Mann ist zufrieden. Und als er auch noch den Grund erfährt - "eine Übung" -, macht er sich gut gelaunt davon. "Merci! Und viel Spaß!", ruft er im Gehen den Polizisten noch zu.

In der großen Bahnhofshalle ist von dem, was laut Polizei-Drehbuch gleich passieren soll, noch weniger zu merken. Eigentlich ist es wie immer. Und das heißt: wenig los um diese Zeit, kurz vor Mitternacht. Nur noch ein paar Züge kommen am Hauptbahnhof an. Fahrgäste gehen mit ihren Koffern Richtung Arnulfstraße, dorthin, wo sonst die Taxis stehen, die Busse abfahren, wo es nur ein paar Meter bis zu den Hotels auf der anderen Straßenseite sind. Doch der Weg ist diesmal versperrt. Blaue Stellwände auf Betonfüßen bilden eine optische Barriere. Polizisten stehen davor, erklären, deuten, beschreiben den Weg. Alles bleibt ruhig.

Ungewöhnlich ist der lange ICE, den die Bahn auf Gleis 26 abgestellt hat, dort, wo sonst die Regionalzüge nach Schwandorf, Weiden oder Hof fahren - ein Sichtschutz, ebenso wie der rote Nahverkehrszug, der auf der anderen Seite den Starnberger Flügelbahnhof in Richtung Arnulfstraße abschirmt. Dazwischen wird noch ein weiterer Zug stehen. Doch den bekommt niemand zu sehen.

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Anti-Terror-Übung in München
:Wenn die Panik ausbleibt

Eine Stunde lang sind am Münchner Hauptbahnhof Schüsse und Schreie zu hören. In den sozialen Netzwerken bleibt trotzdem alles ruhig. Beobachtungen aus der Nacht.

Von Jana Stegemann

Dass bei der Übung ein Zug eine Rolle spielen wird, kann hören, wer kurz vor Mitternacht zufällig an einem Polizisten mit eingeschaltetem Funkgerät vorbeigeht. Die Übungsleitung erinnert an die Sicherheitsbestimmungen: Nicht auf Züge klettern im Einsatz, heißt es, die Stromabnehmer seien nicht abgeschaltet. Und die Türen der Züge dürften nicht aufgebrochen werden. Wer sich verletze, also richtig verletze, ohne Schminke und Kunstblut (aber das wird nicht dazu gesagt), der solle sich im Zelt bei der Inspektion 16 behandeln lassen.

Plötzlich ein Poltern. Und ein vielstimmiger Schrei, der auch dem, der von der Übung weiß, Angst macht. Ein Schrei so voller Entsetzen, dass er eine Antwort braucht. Irgendeine Antwort. Doch sie bleibt aus, der Schrei hängt in der Luft. Später, eine Stunde später, die sich anfühlt wie eine halbe Ewigkeit, wird man erfahren: Wäre das, was den Schrei ausgelöst hat, Wirklichkeit, dann wären mehrere Menschen von einem Messerstecher getötet worden, würden andere schwer verletzt in ihrem Blut liegen. Doch was hinter der Absperrung geschieht, ist nicht zu sehen. Zu sehen sind die Einsatzfahrzeuge, die aus beiden Richtungen herbeirasen, sind Polizisten, die aussteigen und ihre Schutzkleidungen anlegen.

Und dann fallen die Schüsse. Nicht da, wo man sie erwartet hätte: im Bahnhof. Sie kommen aus dem Zwischengeschoss zur S-Bahn. Damit hat niemand gerechnet, auch nicht die Polizisten, die in dieser Nacht Einsatz haben und wissen, dass eine Großübung auf sie wartet. Es ist der Moment, in dem die Übung in den Köpfen der Beamten aufhört, Übung zu sein, und Realität wird. Die Bilder dieser Realität soll kein Zaungast sehen. Doch die Bilder, die sich aus Schüssen, den Schreien und dem Sirenengeheul im Kopf formen, sind fast noch erschreckender als das, was ein kurzer Seitenblick auf einen Überwachungsmonitor in einem abgestellten Polizeifahrzeug enthüllt: Zwei Attentäter mit Maschinenpistolen machen Jagd auf Menschen, Polizisten stellen sich im Gewühl den Mördern entgegen. In diesem Moment wird das Undenkbare scheinbar Realität.

Die Bilder, die auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erschreckt haben, der Augenzeuge des Übungseinsatzes ist, werden später für die Presse noch einmal nachgeliefert. Im noch immer abgeriegelten Starnberger Flügelbahnhof führen Polizei und Feuerwehr drei Szenen vor, die aber nicht direkt aus der Übung entnommen sind. Doch es sind weniger diese für die Kameras inszenierten Bilder, die das Entsetzen und die Beklemmung spürbar werden lassen.

Es ist der Ort des Geschehens: Im improvisierten Straßencafé vor dem Yorma's liegen noch immer die umgestürzten Stühle und der Tisch, den der Attentäter bei seiner tödlichen Messerattacke umgestoßen hat. Es sind die zwei Züge, wie sie jeden Tag zu Dutzenden in und um München unterwegs sind und zwischen denen auf einmal schreiende Menschen hervorkommen und ein weiteres Mal in dieser Nacht nach Drehbuch um ihr Leben rennen. Es ist der Zeitungskiosk, hinter dem zwei Polizisten in Deckung gehen, um ihren Kollegen Feuerschutz zu geben, die einen schwer am Bein getroffenen jungen Mann in Sicherheit bringen.

Und es ist die Treppe. Die Treppe hinaus aus dem Bahnhof, hinunter zur Arnulfstraße, wo bereits der Rettungswagen wartet. Die Treppe, die leer zurückbleibt, als die Feuerwehrleute mit der Trage und dem Verletzten und die Polizisten mit den Waffen im Anschlag längst unten sind. Fast leer. Denn oben auf der Treppe, auf der obersten Stufe, liegt in einer Lache aus Kunstblut ein Infusionsbeutel.

Polizeipräsident Hubertus Andrä wird in seinem Fazit sagen: Die Übung, so realitätsnah sie auch gewesen sei, stehe in keinerlei Zusammenhang mit einer konkreten Gefahr für den Hauptbahnhof.

© SZ vom 19.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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