Anti-Terror-Übung in München:Wenn die Panik ausbleibt

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Eine Stunde lang sind am Münchner Hauptbahnhof Schüsse und Schreie zu hören. In den sozialen Netzwerken bleibt trotzdem alles ruhig. Beobachtungen aus der Nacht.

Von Jana Stegemann

Die sogenannten Fake-News entstehen in dieser Nacht nicht im Netz - sondern in der Arnulfstraße, im Dunkeln direkt hinter den Absperrgittern. Das mag an der späten Uhrzeit und dem erhöhten Promillewert mancher Schaulustiger am Münchner Hauptbahnhof liegen. Einer behauptet lallend, die Anti-Terror-Übung habe "Merkel persönlich angewiesen, um etwas sehr viel schlimmeres zu vertuschen". Ein anderer äußert vor dem nächsten Schluck Helles weitere Verschwörungstheorien. Doch das sind Einzelfälle, die nur mitbekommt, wer aufmerksam zuhört. In den sozialen Medien hingegen bleibt es ruhig.

Wer jemals während eines Anschlags oder Amoklaufs in Echtzeit Facebook oder Twitter verfolgt hat, weiß, dass beide Netzwerke zu Brandbeschleunigern werden können, zu gefährlichen Informationslawinen, in denen Fakten und Fiktion gleichermaßen auf den User einprasseln. Es gibt dann kaum Orientierung mehr - nur eine unaufhörliche Flut an Gleichzeitigkeit, Atemlosigkeit und sehr viel Wahnsinn.

In dieser milden Frühlingsnacht in München ist das anders. Obwohl die Polizei am und im Hauptbahnhof mit mehr als 2000 Polizisten, Feuerwehrleuten, Sanitätern und sonstigen Einsatzkräften die größte, jemals in München veranstaltete Anti-Terror-Übung durchführt, bricht im Netz keine Panik aus. Die Münchner verstehen, dass es eine Übung ist, dass die vier Angreifer ihre Attacke nur spielen. Die drängendsten Fragen an den Absperrungen gelten parkenden Autos und bald abfahrenden Zügen.

München bleibt in dieser Nacht ruhig. Trotz einer sehr realistischen, einstündigen Geräuschkulisse aus Schüssen, Schreien und Explosionen im Herzen der Stadt. Obwohl die Übung am Hauptbahnhof viele an den 22. Juli 2016 erinnern dürfte, an dem vieles so ganz anders ablief.

Als der 18-jährige David S. am Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen ermordete, versetzte er die Millionenstadt München für Stunden in Panik. Nur vier Abende nach dem Axt-Angriff in einem Regionalzug in Würzburg verbreitete sich die Meldung "Schüsse am OEZ" rasend schnell im Netz. Auch weil die Schüsse in eine Stimmung hineingefeuert wurden, in der sogar der sicherheitsverwöhnte Münchner einen Terroranschlag in der eigenen Stadt für realistisch hielt: Paris, Brüssel, Nizza, Würzburg. München? Klang logisch.

Polizisten sperren vor Beginn der Großübung "Lelex" Bereiche des Hauptbahnhofes ab. (Foto: dpa)

In jener Nacht im Juli verletzten sich 32 Menschen auf der Flucht vor Gefahren, die es gar nicht gab. Verzweifelte, verängstigte Münchner, die zu Hunderten den Notruf wählen, berichteten von 70 Tatorten in der ganzen Stadt, sogar von zwei Geiselnahmen, die es nie gegeben hat. Mehr als 2300 Polizisten waren im Einsatz. Der Polizeisprecher sprach danach von "Phantomtatorten". Die Polizei selbst schrieb zu einem Zeitpunkt, zu dem der Attentäter seit Stunden tot ist, auf Twitter: "Gerüchte um eine Schießerei in der City bekannt. Die Lage ist noch unklar."

Viel souveräner blieb die Polizei den Münchnern zu Silvester 2015 in Erinnerung. Kurz vor Mitternacht verbreitete sie via Twitter und Facebook den Hinweis, dass ein Terroranschlag in der Stadt geplant sei und die Bevölkerung daher Menschenmengen, den Hauptbahnhof sowie den Pasinger Bahnhof meiden solle. Auch damals herrschte große Anspannung in der Stadt, so kurz vor dem Jahreswechsel waren viele Münchner auf den Straßen unterwegs, lasen auf ihren Smartphones die beunruhigenden Push-Nachrichten. Doch das Social-Media-Team der Polizei München kuratierte die wenigen verfügbaren Informationen so vorbildlich, dass viele in dieser Nacht trotzdem beruhigt feiern konnten.

Beim Übungs-Einsatz im April 2018 ist die Beruhigung aufgeregter Social-Media-Nutzer gar nicht erst nötig. Die "Lelex" ("Lebensbedrohliche Einsatzlage Exercise") wurde ein halbes Jahr geplant. Eigentlich wollte die Polizei München die Information erst 36 Stunden vor Beginn der Übung an die Bevölkerung rausgeben. Doch dann sickerte das Meiste bereits Ende der vergangenen Woche durch.

Münchens Polizei hat seitdem 17 Anrufe von Bürgern erhalten, einige waren besorgt, andere wollten gerne als Statisten mitwirken. Das erzählt Münchens Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins vor Beginn des Großeinsatzes. Er sagt auch: "Wir wollen es komplett, wir wollen es kompliziert." Das bedeutet: Es wird der Ernstfall geprobt, in echt und im Netz.

Daher streut die Einsatzleitung unter den Einsatzkräften zwischen 0 Uhr und 3.40 Uhr per Notruf und in den sozialen Netzwerken 1500 Meldungen, Hinweise und Anrufe. Einige von ihnen enthalten bewusst falsche Informationen, immerhin sind Zeugen im Katastrophenfall oft unzuverlässig. Die Einsatzkräfte müssen Gerüchte erkennen und von tatsächlichen Hinweisen unterscheiden.

Doch wie die Auswertung für den Ernstfall geübt wird, davon dringt nichts an die Öffentlichkeit. Auf ihrem Twitter-Account präsentiert die Polizei München stattdessen das Foto eines fröhlichen dreiköpfigen Social-Media-Teams von Feuerwehr, Polizei und Bundespolizei, das auf Twitter locker durch die Nacht führt.

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Nach der Übung erzählt da Gloria Martins, dass mit von der Polizei betriebenen Schattenaccounts - also extra eingerichteten Profilen, die sich gegenseitig folgen und für Außenstehende nicht als Polizeiaccounts erkennbar und nur schwer auffindbar sind - 700 Hinweise auf Twitter platziert worden sind. Zwei Kollegen, die in dieser Nacht den Übungs-Social-Media-Dienst hatten, mussten diese auswerten. Unterstützt hat sie dabei das Social-Media-Team der Polizei Mittelfranken.

Der Polizeipräsident Hubertus Andrä wird nach der Übung sagen, dass die Situation natürlich eine andere als nach dem Anschlag am OEZ sei, "weil wir schon im Vorfeld intensiv darüber berichtet haben, dass es sich um eine Übung und nicht um einen Echteinsatz handelt". Er ergänzt dann aber: "Faktum ist aber auch, dass ein Luftballon, der hier vor kurzem in der Halle am Hauptbahnhof explodiert ist, Panikreaktionen ausgelöst hat."

So realitätsnah das unübersichtliche Anti-Terror-Szenario auch war, so froh sind Pressesprecher Marcus da Gloria Martins und Social-Media-Chef Oliver Timper morgens um kurz vor 4 Uhr, dass in einem Punkt so gar nichts realitätsnah war: "Dass wir die Übung durchführen konnten, ohne die Münchner zu erschrecken."

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