Es sind Szenen, "von denen wir alle hoffen, sie hier nie zu erleben", wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) später sagen wird. Ein warmer Abend, ungewöhnlich warm für Mitte April. Viele Menschen sitzen in einem Straßencafé im Starnberger Flügelbahnhof, einem Teil des Münchner Hauptbahnhofs. Plötzlich steht ein Mann auf, zieht ein Messer, sticht wahllos auf die Nachtschwärmer ein. Ein Blutbad.
Panik bricht aus, ein Tisch fällt krachend um, Menschen springen auf, rennen schreiend um ihr Leben. Kurz darauf erreicht eine Streife der Bundespolizei das Café. Den Täter können die Beamten rasch ausschalten. Zurück bleiben Tote und Schwerverletzte.
So beginnt am Mittwoch um 0.03 Uhr die von der Polizei angekündigte Ernstfallübung "Lelex". Das Kunstwort steht für "Lebensbedrohliche Einsatzlage Exercise". Eine Anti-Terror-Übung. Doch die Beamten, die als Erste den Tatort erreichen, wissen nicht genau, was sie dort erwartet. Wie schwer die Grenzen zwischen einem Amoklauf und einer Terrorattacke zu ziehen sind, das hat der OEZ-Anschlag vom 22. Juli 2016 den Münchner Einsatzkräften gezeigt.
Wie in der Realität wissen auch die Beamten in den ersten Minuten des 18. April 2018 nicht, womit sie es am Starnberger Flügelbahnhof zu tun haben. Es könnte die furchtbare Tat eines Einzelnen sein. Doch nur wenige Minuten später ist klar: Das monatelang geplante Szenario sieht anderes vor für die mehr als 2000 beteiligten Bundes- und Landespolizisten und die Mitarbeiter von Feuerwehr, Rettungsdiensten, Katastrophenschutz und Krankenhäusern.
Denn plötzlich fallen Schüsse im Zwischengeschoss und auf dem Bahnsteig an der S-Bahn-Stammstrecke unter der Arnulfstraße. Aus Maschinenpistolen feuern ein Mann und eine Frau auf Passanten und Fahrgäste. Die Menge der scheinbar unbeteiligten Passanten erschwert es den Einsatzkräften zunächst, den Täter zu lokalisieren. Das Feuergefecht dauert viele Minuten. Einem weiteren Angreifer gelingt es, sich in einem Regionalzug zu verschanzen, er nimmt dort Geiseln.
Dramatische Einsatz-Nacht nach Drehbuch
Und dann erreicht die Nachricht die Einsatzkräfte: Auch in Garching-Hochbrück hat ein Geiselnehmer mehrere Menschen in seine Gewalt gebracht. Die Lage ist dramatisch.
Seit Monaten haben die Verantwortlichen an diesem Drehbuch gefeilt. So realitätsnah wie möglich sollte die Übung ausfallen. Und das bedeutete: Keine geschlossenen Einheiten, die irgendwo in Bereitschaft auf ihren Einsatz warten würden - diejenigen Beamten, die in dieser Aprilnacht tatsächlich Dienst hatten, mussten die Herausforderung bewältigen. Freilich ohne die reale Sicherheit Münchens zu gefährden. Für jeden Polizisten, der wegen "Lelex" ausrücken musste, sollte sofort ein Kollege einspringen.
Auch das Landratsamt München, die Deutsche Bahn und die Münchner Verkehrsgesellschaft waren eingebunden. Zur Realitätsnähe der Übung sollte auch der Einsatzort gehören, der Münchner Hauptbahnhof. Immerhin war der an Silvester vor zwei Jahren wegen eines Terroralarms evakuiert worden. Es war klar, dass geschossen würde - mit Platzpatronen. Ihre scharfe Munition mussten die eingesetzten Beamten am Beginn der Übung abgeben, ihre Waffen sichern.
Polizeischüler machten als Komparsen mit
Tote und Verletzte würden zu sehen sein, von rund 400 Polizeischülern gespielt, die mit Kunstblut geschminkt worden waren. Schließlich sollte nicht nur die Bekämpfung der Attentäter simuliert werden, sondern auch die Versorgung der Verletzten, von der "taktischen Medizin" durch die Polizei noch am Anschlagsort über die Versorgung durch Feuerwehr und Rettungsdienste an einer provisorischen Verwundeten-Sammelstelle an der Paul-Heyse-Unterführung bis zur Aufnahme in Münchner Krankenhäuser. Die Kliniken der Universität waren in die Übung eingebunden.
Die Angreifer, die am Ende der Übung alle als "ausgeschaltet" - also kampfunfähig oder tot - galten, wurden von erfahrenen Einsatztrainern der Polizei gemimt.
Kolonnen von Einsatzfahrzeugen, die mit Blaulicht und Martinshorn durch das nächtliche München rasen, Schüsse und Detonationen am Hauptbahnhof, eine Bahnsteigsperrung an der Stammstrecke wegen eines angeblichen "Feuerwehreinsatzes": Niemand konnte exakt vorhersagen, welche Folgen ein derartiges Szenario in einer Stadt haben würde, deren Bewohner die Silvesternacht 2015 und den Abend des OEZ-Anschlags noch in schrecklicher Erinnerung haben.
"Schon ein explodierender Luftballon am Hauptbahnhof kann Panikreaktionen auslösen", weiß Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä. Die Übung - ähnliche Testläufe hatten bereits in Frankfurt und Leipzig stattgefunden - wurde für die Münchner Polizei deshalb ein Drahtseilakt. Einerseits sollte sie so wirklichkeitsnah ablaufen wie nur irgendwie möglich. Andererseits wollte man weder Panik auslösen noch Einsatztaktiken preisgeben.
Nach den ersten Reaktionen der Verantwortlichen ist das offenbar gelungen. Er habe "beeindruckende und beklemmende Bilder gesehen", sagte der bayerische Innenminister, der während des laufenden Einsatzes zu den Schauplätzen geführt wurde. Andere Fachbesucher aus den verschiedenen Polizeibehörden, die Rede war von rund hundert, verfolgten die "Lelex"-Übung an Bildschirmen im Polizeipräsidium.
Direkt im Einsatzgeschehen waren dagegen Beobachter und "Schiedsrichter" der Polizei unterwegs. Ihre Aufgabe war es, in den laufenden Einsatz einzugreifen, Kollegen auf mögliche Fehler hinzuweisen - oder sie mit neuen, überraschenden Situationen zu konfrontieren. Wie gut die rund 1100 direkt am Einsatz beteiligten Landes- und Bundespolizisten die Herausforderungen gemeistert haben, werde die Auswertung in den kommenden Wochen ergeben, sagte der Präsident der Bundespolizeidirektion München, Karl-Heinz Blümel.
Er bescheinigte den Beamten jedoch bereits jetzt, professionell und schnell gehandelt zu haben. Zwischenfälle, gar ungeplante Verletzungen, habe es nicht gegeben, ergänzte Andrä. Und aus den ebenfalls doppelt - nämlich real wie für die Übung - besetzten Social-Media-Abteilungen der beiden erstmals in dieser Größenordnung gemeinsam übenden Polizeiorganisationen war ein erleichtertes Aufatmen zu hören: Auch im Netz waren Panikreaktionen ausgeblieben, die Münchner hatten die Übung als Übung erkannt.
Die Münchner blieben ruhig
Um "Lelex" so realistisch wie möglich zu inszenieren, spielten die Organisatoren zwischen 0 Uhr und 3.40 Uhr per Notruf sowie über die sozialen Netzwerke mehr als 1500 Meldungen, Hinweise und Anrufe ein, die wie im Polizeialltag auch zahlreiche Gerüchte und Fehldeutungen enthielten. "Dieses hohe Informationsaufkommen stellte die übenden Einsatzkräfte vor zusätzliche Herausforderungen", hieß es in einem ersten Fazit am frühen Morgen, "da hier relevante von unwichtigen Informationen getrennt und Gerüchte oder tatsächliche Hinweise schnell und sicher erkannt werden mussten."
Außerdem mussten während der Übung weitere, nicht im Dienst befindliche Einsatzkräfte alarmiert und wichtige Bereiche wie Tatortarbeit, Betreuung von Opfern und Zeugen sowie kriminalpolizeiliche Hintergrundermittlungen "live" anhand des laufenden Szenarios abgearbeitet werden. Viel Zeit zum Durchschnaufen wird die bayerische Polizei nicht haben. Bereits vom 19. auf den 20. Juni steht die nächste Ernstfallübung an. Wieder wird es um einen mutmaßlichen Anschlag gehen. Partner der Polizei auf dem Fliegerhorst Penzing bei Landsberg wird dann laut Herrmann die Bundeswehr sein.
Die "Lelex"-Nacht endet, wie sie begonnen hat. Wieder fallen Schüsse. In Panik rennen Menschen zwischen zwei abgestellten Zügen der Deutschen Bahn Richtung Ausgang, schreien um Hilfe. Einer wird durch einen Schuss ins Bein schwer verletzt. Mit Helmen geschützte Polizisten retten den Mann aus dem Schussfeld. Andere gehen gegen den Angreifer vor. Es ist eine nachgespielte Szene für die Presse - "kein Ausschnitt aus dem Übungsgeschehen", wie die beiden Polizeisprecher Thomas Borowik und Marcus da Gloria Martins versichern. Die Bilder sind dennoch beklemmend.