Versöhnung:"Inzwischen umarme ich die Angst"

Ursula Buchfellner

Ursula Buchfellner: Es ist ein Dilemma, dass da, wo Armut, Not und Hunger herrschen, kein Raum für Entwicklung sein kann

(Foto: privat)

Ursula Buchfellner erlebte eine von Armut und Gewalt geprägte Kindheit. Mit 16 wird sie Deutschlands jüngstes Playmate und Erotikdarstellerin. Sie bleibt zerrissen - bis sie den Weg zurück ins Münchner Hasenbergl wagt.

Protokoll: Lars Langenau

Ursula Buchfellner, 54, war mit 16 Jahren Deutschlands jüngstes Playmate und machte als Model weltweit Karriere. Sie spielte in diversen 70/80er-Jahre-Erotikfilmchen mit und war langjährige Partnerin des Berliner Playboys Rolf Eden. Buchfellner wuchs im Münchner Hasenbergl inmitten von Gewalt, Missbrauch und Armut auf. In einer schweren Lebenskrise begreift sie, dass erst die Aussöhnung mit Vater und Mutter Heilung für ihre traumatischen Erinnerungen bedeuten kann. Heute lebt sie in Bern und München und unterrichtet Yoga für Kinder. Vergangenes Jahr veröffentlichte sie ein Buch über ihr Leben: "Lange war ich unsichtbar. Wie Versöhnung mein Leben rettete."

"Mein Vater hat alle seine Kinder geschlagen. Mich besonders, weil ich so ein lebenslustiges Kind war. Wenn ich damals merkte, dass wieder einmal eine traurige, niedergedrückte Stimmung herrschte, dachte ich mir ein Spiel aus. Doch Freude konnte mein Vater nicht aushalten. Also sollte auch die Lebensfreude seiner Kinder still sein. Er ging schnurstracks auf mich los, weil er wusste, dass ich die Anstifterin war.

Er war selbst das jüngste von zehn Kindern, zwei seiner Brüder und sein Vater kamen im Zweiten Weltkrieg um, deshalb durfte bei ihm zu Hause nicht gelacht werden. Alles war ernst, es gab einfach keine Berechtigung zum Fröhlichsein. Für meine Großeltern väterlicherseits war das Leben grausam und mühsam. In diesem Bewusstsein wuchs mein Vater auf. Dann fand er ein kleines Glück: Er traf meine Mutter - doch auch sie war Opfer ihrer schwierigen familiären Umstände. Sie bekamen zehn Kinder, eines nach dem anderen. Ihnen konnten sie jedoch nur weitergeben, was sie selbst erfahren hatten: Leid und Dramen.

Es ging die ganze Zeit ums pure Überleben

Ich kam als drittes Kind meiner Eltern auf die Welt, nach mir kamen noch weitere sieben Geschwister. Zwischen acht und 16 Kinder zu haben, war im Münchner Hasenbergl normal. Genau wie die Armut und der Hunger, die für ständige Anspannung in den Familien sorgte. In den sechziger Jahren herrschte in unserem Viertel eine unglaubliche Aggression. Ständig gab es Prügeleien, immer haben sich Leute angeschrien, Nachbarn sind mit Rasierklingen aufeinander losgegangen.

Meine Eltern und Großeltern hatten keine Chance auf ein anderes Leben mit Bildung und Wohlstand. Es ging die ganze Zeit ums pure Überleben. Sie dachten nicht nach über sich oder darüber, ob es gut ist, einem Kind die Freude aus dem Leib zu schlagen. Nicht einmal ob es Sinn macht, noch ein Kind zu bekommen, wenn die anderen schon an Hunger leiden. Sie hatten dafür einfach keine Zeit. Wo Armut herrscht, hat man keinen Kopf frei für solche Fragen. Es ist ein Dilemma, dass da, wo Armut, Not und Hunger herrschen, kein Raum für Entwicklung sein kann. Denn es geht im Leben nicht nur um Essen, sondern auch um elementare seelische Bedürfnisse. Ich glaube, dass wir zehn Geschwister nur deshalb überlebt haben, weil wir uns damals hatten und bis heute noch haben.

Erste Schritt raus aus dem inneren Gefängnis

Ursula Buchfellner

Ursula Buchfellner mit 18 Jahren: Ich glaube, dass wir zehn Geschwister nur deshalb überlebt haben, weil wir uns damals hatten und bis heute noch haben

(Foto: privat)

Wir Kinder wollten da ausbrechen. Mit 15 besuchte ich mit meiner Schwester Brigitte erstmals einen Kurs, der uns dabei helfen sollte: Wir wollten lernen, wie man richtig kommuniziert, wie man auf Menschen zugeht. Das war unser erster Schritt aus dem inneren Gefängnis, raus aus diesem gewalttätigen Milieu. Ich bin davon überzeugt, dass ein Trauma von einer Generation auf die nächste übertragen wird, wenn man nichts dagegen tut. Und wir Kinder wollten diesen Kreislauf ein für allemal durchbrechen.

Es gibt heute viele Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen. Möglichkeiten, die meine Eltern noch nicht hatten. Meine Schwester und ich holten uns psychologische Hilfe, lasen Bücher über Psychologie. Ich musste erkennen, dass meine weibliche Seite restlos deformiert war. Später halfen mir Familienaufstellungen dabei, auch die Rolle meines Vaters zu verstehen. Denn bis dahin war unser Vater für mich nur der Täter, meine Mutter das Opfer. Doch das war nicht so. Er hat mich zwar brutal geschlagen, aber sie stand daneben und sah zu.

Ich hatte den inneren Antrieb, das anders machen zu wollen. Mit zehn Jahren prophezeite ich einer Nachbarin, einmal nicht so zu werden wie all die anderen Familien aus dem Hasenbergl. Später bin ich in viele Länder gereist und konnte den Reichtum in der Armut erkennen. Allerdings gibt es den auch nur dann, wenn die emotionalen Grundbedürfnisse gedeckt sind. Niemals habe ich glücklichere Kinder erlebt als in den ärmsten Ländern der Welt. Doch für mich hieß das Paket Armut lange nur: Hungern, schrecklich frieren, Schläge, Angst vor Erwachsenen, Hilflosigkeit, Missbrauch.

Missbrauch war alltäglich

Missbrauch war alltäglich am Hasenbergl. Das erste Mal erlebte ich ihn mit sieben Jahren. Durch meine Schüchternheit und Ängstlichkeit war ich wohl auch mehr in der Opferrolle als meine Geschwister. Es scheint, als ziehen Opfer Täter an - Pädophile müssen das spüren. Männer haben mir den Rock hochgehoben, haben mir ihren Penis gezeigt, ich sollte ihnen einen Schlüssel aus der Hose holen und hatte plötzlich einen Penis in der Hand. Ein Lehrer ließ mich in der 4. Klasse ständig auf seinem Schoß sitzen, bis ich merkte, dass er das wohl aus einem bestimmten Grund machte. Das prägt ein Kind. Ein Penis war für mich lange das schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte. Ich konnte sehr, sehr lange keine natürliche, erfüllende Sexualität entwickeln.

Ich bin kinderlos. Lange Zeit hatte ich panische Angst davor, mich um ein Kind kümmern zu müssen, weil ich mich nicht einmal um mich kümmern konnte. Negatives Vorbild war meine komplett überforderte Mutter. Körperlich war ich gesund und hätte Kinder haben können. Doch drei Ärzte attestierten mir, dass ich aufgrund einer seelischen Verweigerung nicht schwanger werden könne. Als ich das mit 37 Jahren endlich begriffen und verarbeitet hatte, wurde ich nicht mehr schwanger.

Wenn meine Partner später nicht so geduldig gewesen wären, hätte ich wohl noch immer keine befreite Sexualität. In meiner Welt hatte sich eine Frau zu ergeben, herzugeben für den Mann. Ein Mann war sehr lange für mich bedrohlich, gewalttätig und gefährlich. Erst mit Anfang 30 konnte ich Männer als etwas Wunderbares begreifen.

Immer wieder verlor ich mich

Ursula Buchfellner

Ursula Buchfellner: Eigentlich war der Weg für meinen Untergang geebnet: in jungen Jahren Nacktmodel, dazu blöde 70erJahre-Filmchen mit noch blöderen Titeln

(Foto: privat)

Eigentlich war der Weg für meinen Untergang geebnet: in jungen Jahren Nacktmodel, dazu blöde 70er-Jahre-Filmchen mit noch blöderen Titeln. Bei anderen Frauen führte das direkt in die Pornografie und zum Absturz. Doch irgendwie hat sich in mir immer im richtigen Moment der Widerstand gemeldet und Grenzen festgelegt, dass ich nicht alles mitmache. Eher wäre ich verhungert.

In meinem Leben kam ich immer wieder an Punkte, in denen ich für mich entschied, dass ich so nicht weiterleben wollte. Ich führte kein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben. Gerade in Bezug auf Partnerschaften verlor ich mich immer wieder. Meine Partner lebten zwar mit mir, langweilten sich aber irgendwann, weil ich für sie keine Herausforderung war und keine Reibungsfläche bot. Nachdem meine Beziehungen immer wieder scheiterten, musste ich mir Gedanken über folgende Frage machen: Was für ein Leben lebe ich da eigentlich, dass ich mich so abhängig mache von einem Partner? Dass jemand Macht darüber hat, ob es mir gut geht oder nicht. Dieses Programm, das mich so lange leitete, wollte ich ändern.

Rolf Eden wollte nicht, dass ich erwachsen wurde

Rolf Eden etwa nannte mich immer "Schnuckilein". So gern ich ihn mag: Er wollte nicht, dass ich erwachsen wurde. Das ging mir irgendwann so auf den Keks, dass ich gehen und mir einen gleichaltrigen Partner suchen musste. Nach der Trennung empfand ich erst einmal nichts als Trauer. Dabei hat er es mir leicht gemacht, indem er mir für immer seine Freundschaft anbot. Er ist die Ehrlichkeit in Person, ich konnte immer auf ihn zählen. Dennoch: Ihn zu verlassen, war ein wichtiger und richtiger Schritt.

Danach führte ich 14 Jahre eine sehr anstrengende On-Off-Beziehung. Diese Verbindung bestand wieder aus denselben alten Mustern, und nach dem Ende wurde mir klar, dass ich ein Vater-Thema habe. Und ich erkannte: Wenn ich das nicht anginge, würde ich immer Opfer bleiben und nie eine gleichberechtigte Partnerschaft auf Augenhöhe führen.

Bis dahin hatte ich schon vieles versucht: Partnerschaftstherapie, Reise durch Indien, zwei Monate mit dem Rucksack durch Thailand. Ich habe wochenlange Seminare besucht, wo ich auf Kissen geschlagen, geheult und geweint habe. Ich habe alles probiert, doch geholfen hat das alles nicht. Dennoch war es nötig - eine Vorbereitung, auf das, was vor mir lag: die Rückkehr zu meinen Wurzeln.

Ich musste erst ganz zurückgehen in meine Vergangenheit, um all die Mechanismen zu erkennen, die mich so lange geprägt hatten. Nur am Ursprung, so meine Hoffnung, konnte ich den Schalter umdrehen. Nur da, wo die Verletzungen entstanden waren, konnte ich sie heilen. Und die lagen in meiner Kindheit, bei meiner Familie.

Viele Wunden wurden wieder aufgerissen

Mit Ende 40 zog ich bewusst für drei Monate zu meiner Mutter ins Hasenbergl. Ich habe sie Löcher in den Bauch gefragt und in die Vergangenheit geschickt. Natürlich wurden da viele Wunden wieder aufgerissen. Aber ich konnte mich zum Glück schon um mich selbst kümmern. Ich zog mich zurück, wenn es unerträglich wurde, und weinte viel. Meine Wunden konnten auf diese Weise heilen. Auch weil ich plötzlich die Liebe meiner Mutter spürte, die ich als Kind oft schmerzhaft vermisst hatte.

Ich denke, es ist eine heilsame Maßnahme, noch einmal in die Vergangenheit einzutauchen. Zwar verstehe ich, dass viele Leute das meiden, aber für mich war es der richtige Weg. Heute kann ich sagen: Es war mit die beste Zeit meines Lebens. Dass ich das überhaupt konnte, hat sehr viel mit Selbstliebe zu tun, die ich erst lernen musste. Versöhnung kann auch ein egoistischer Akt sein: Ich versöhne mich, damit es mir persönlich besser geht und ich ein leichteres Leben habe.

Kinder lieben ihren Vater, was auch immer er getan hat

In den drei Monaten bei meiner Mutter habe ich auch die Nähe zu meinem Vater gesucht. Zunächst verweigerte er mir das und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Am nächsten Tag empfing er mich für zwei Minuten. Wirklich erreichen konnte ich ihn dann bei seinen Freunden im Wirtshaus. Ich musste mit denen trinken, Zigaretten rauchen und mir Witze auf der untersten Gürtellinie anhören, aber es hat sich gelohnt: Er hat sich geöffnet, erzählte plötzlich von sich - und ich hörte ihm zu.

Er ist gestorben, als ich die letzten Zeilen meines Buches schrieb. In der Nacht zuvor hatte ich geträumt, dass er mir nachgelaufen ist und sich bei mir entschuldigte. Ich trauerte um ihn, obwohl er mich so furchtbar schlug. Kinder lieben ihren Vater, was auch immer er getan hat.

Einfach nur leer - und voller Liebe

Nach der Versöhnung mit meiner Mutter und meinem Vater war ich leer. Es war eine gute Leere, voller Stille und Friede. Das ist ein Zustand, den ich jedem Menschen wünsche: Kein Groll, kein Hass, kein Frust, kein "Du sollst", kein "Du musst". Einfach nur leer - und voller Liebe. In diesem Zustand durfte ich mich neu definieren, mich selbst finden. Oft sitze ich heute nur da, verharre in Stille, meditiere und frage mich: Wer bist du wirklich? Eine endgültige Antwort habe ich noch nicht, aber ich lerne mich jeden Tag neu kennen.

Jetzt bin ich 54, und noch immer tauchen Facetten an mir auf, die für mich neu sind. Mein Buch heißt "Lange war ich unsichtbar" - und das war ich für mich selbst auch. Dabei half mir die Gabe, mich in die Vogelperspektive zu versetzen. Das habe ich schon als Kind gemacht, um den Schmerz im Körper nicht spüren zu müssen. Heute tue ich es, um meinen Blickwinkel zu erweitern und das Ganze zu sehen. Es macht einen immensen Unterschied, ob ich mitten im Geschehen bin oder es von einer erträglichen Distanz aus betrachte.

Wenn Gott will, habe ich vielleicht noch 40 Sommer

Ich musste wohl erst in eine spätere Lebensphase kommen, um das zu erreichen. Mit 45 erkennt man, dass nun die zweite Lebenshälfte beginnt, das Leben endlich ist. Wenn Gott will, habe ich vielleicht noch 40 Sommer. Als Kind hatte ich selbst in mein eigenes Poesiealbum folgenden Satz geschrieben, der mich mein Leben lang begleitet: "Wenn du glaubst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her." Weil das wahr ist, sehe ich wohl heute noch so gut aus, bin weich und strahle Liebe aus. Ich hätte auch verbissen und grob werden können, aber immer wenn es am Schlimmsten war, begleitete oder beschützte mich etwas.

Eine Zeit lang kann man verdrängen, sich den Dingen nicht stellen, manchmal ist es als Schutz auch wichtig. Aber das Leben fordert dich immer wieder heraus, lässt dich zurückblicken und den Schmerz neu erleben. Und genau daran wächst man. Wer dauerhaft verdrängt, hat einen Feind im Gepäck, von dem er nichts weiß. Nur, wenn er sich ihm aber stellt, kann er zu deinem Freund werden.

Allein mich sichtbar zu machen, etwa wenn ich mich in Runden vorstellen musste, hat bei mir früher Todesängste ausgelöst. Ich musste diesen Ängsten nachgehen und erkennen, dass ich, wenn ich zu Hause gesehen wurde, fast totgeschlagen wurde. Das brannte sich fest in mein Gehirn ein. Seitdem ich den Zusammenhang erkannt habe, kann ich mit diesem Muster besser umgehen. Ich habe zwar noch Angst, aber ich kann mich wieder beruhigen. Es war ein langer Weg, doch er hat sich gelohnt. Die Melancholie aus der Vergangenheit ist verschwunden und hat Raum für Zufriedenheit gemacht. Ich muss nicht länger im Schutz der Unsichtbaren verweilen, weil mich die Angst nicht mehr im Griff hat. Nun umarme ich die Angst."

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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