Schulpolitik:Wer wählen kann, der wählt meistens G9

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Wo immer sich die Eltern frei entscheiden können, wählt die Mehrheit das neunstufige Gymnasium. (Foto: dpa)
  • Im zweiten Jahr des Pilotversuchs dürften im Schnitt zwei Drittel der Achtklässler in die Mittelstufe Plus gehen.
  • Auf dem Land liegen die Anmeldungen sogar noch deutlich über dem Durchschnitt.
  • Die Direktorenvereinigung hatte kürzlich gefordert, dass die CSU sich endlich zwischen G 8 und G 9 entscheiden müsse.

Von Anna Günther, München

Das neunjährige Gymnasium steht auch in Bayern vor einer Renaissance. Der Ansturm auf den Pilotversuch "Mittelstufe Plus" ist so groß, dass Schulminister Ludwig Spaenle gegenüber der SZ erstmals Konsequenzen andeutete: Es sei möglich, dass künftig die einzelnen Schulen über die Dauer der Gymnasialzeit entscheiden könnten. Sollte er sich mit dieser Idee durchsetzen, so würde dies eine weitgehende Rückkehr zum G 9 bedeuten.

Denn die Zahlen des Pilotversuchs zeigen: Wo immer sich die Eltern frei entscheiden können, wählt die Mehrheit das neunstufige Gymnasium. Die Anmeldezahlen für das kommende Schuljahr sind an fast allen 47 Gymnasien, die im zweijährigen Pilotversuch Mittelstufe Plus neun Jahre zum Abitur anbieten, deutlich gestiegen.

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Die offizielle Meldefrist läuft zwar noch zwei Wochen, aber die meisten Schulen haben die verbindlichen Zahlen schon. Im zweiten Jahr des Pilotversuchs dürften im Schnitt zwei Drittel der Achtklässler in die Mittelstufe Plus gehen. Sie haben vier Jahre für die Mittelstufe Zeit, im G 8 sind es drei Jahre. Dabei dürfte das Interesse höher sein als die Schülerzahl. Einige Direktoren müssen Kinder überreden, im G 8 zu bleiben, damit noch Regelklassen gebildet werden können.

Schon zum aktuellen Schuljahr wählten 59 Prozent den Pilotversuch. Im Ministerium war man von 25 Prozent ausgegangen. Die Eltern entschieden sich 2015 für unerprobte Konzepte, die an jeder Schule anders laufen - Hauptsache neun Jahre.

Die noch einmal gestiegenen Zahlen bestätigen die Bilanz der ersten Monate: Mehr Zeit und mehr Förderung funktionieren, die individuellen Modelle gehen auf. Schüler und Lehrer sind motiviert - von einzelnen Chillern abgesehen.

Die Anmeldungen auf dem Land liegen über dem Durchschnitt

Auf dem Land liegen die Anmeldungen sogar noch deutlich über dem Durchschnitt. Ein Grund ist der wegfallende Nachmittagsunterricht bei weiten Heimwegen und oft schlechten Busverbindungen.

Schon im ersten Plus-Jahrgang gibt es Landgymnasien, an denen drei Viertel länger lernen. Im neuen Schuljahr werden es noch mehr Kinder sein: In Traunstein, Oberviechtach und Regensburg wählten gut 80 Prozent der Siebtklässler die Mittelstufe Plus, in Ebermannstadt und Alzenau sind es sogar 90 Prozent. Bisher war Alzenau einsamer Spitzenreiter.

Für Frank Sommer, den Direktor des Spessart-Gymnasiums in Alzenau, bestätigt sich die große Nachfrage des ersten Jahres. Im Gegensatz zu vielen Kollegen, kann er die Wünsche erfüllen und muss nicht abwerben. 17 Kinder wollen im Regelzug lernen, 174 haben sich für mehr Zeit entschieden. Ein Grund sei die Nähe zu Hessen, sagt Sommer. Die Stadtgrenze bildet auch die Grenze zum Nachbarbundesland.

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Es soll nur ein Modellversuch sein. Doch schon vor Ablauf der Bewerbungsfrist an den Projektschulen ist klar: Mehr als die Hälfte aller Siebtklässler will ein Jahr mehr auf dem Weg zum Abitur. An einigen Schulen ist deshalb sogar das G 8 in Gefahr.

Von Anna Günther

Dort dürfen Gymnasien seit 2013 wählen, ob sie G 8 oder G 9 anbieten. "Viele Schulen sind zurückgekehrt", sagt Sommer, "aber auch die zusätzliche Zeit ist attraktiv - gerade für die guten Schüler." Diese nutzten die Zeit für ihre Hobbys oder wählten entspannter den humanistischen Zweig und die dritte Fremdsprache. Dieses Phänomen beobachten einige Direktoren. Dass sich vor allem schwächere Schüler für die Mittelstufe Plus entscheiden, ist ein weiterer Trugschluss der Politik.

Kritiker des Pilotversuchs bemängeln, dass sich kein Münchner Gymnasium beworben hat. Eingeweihte erklären sich das mit dem Platzmangel: Die Münchner Schulen platzen aus allen Nähten. Aber auch am Puchheimer Gymnasium - gleich hinter der Stadtgrenze - wollen fast 70 Prozent in die Mittelstufe Plus, mehr als 2015.

Die Nachfrage in den Stadtschulen unterscheidet sich weniger vom Land als gedacht: Am Albrecht-Altdorfer-Gymnasium in Regensburg stiegen die Anmeldungen auf 80 Prozent. Auch Karl-Heinz Bruckner, Schulleiter am Neuen Gymnasium Nürnberg, geht von deutlich mehr Anmeldungen aus. Im Pirckheimer Gymnasium soll das Interesse dagegen unter 50 Prozent gesunken sein, noch läuft die Frist. Das Hardenberg-Gymnasium in Fürth meldet 40 Prozent Plus-Schüler.

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So unterschiedlich Konzepte und Anmeldeergebnisse sind, so einig sind die Direktoren, dass die Mittelstufe Plus ohne deutlich mehr Budget auf Dauer nicht umgesetzt werden kann. Die Wahl ist unvorhersehbar und die Planung kompliziert, wenn verschiedene Zweige mit beiden Lerngeschwindigkeiten kombiniert werden müssen.

Bestätigung für individuelle Lernzeit

Und mit jedem Jahrgang wird der Parallelbetrieb komplizierter. "Das wird die Gymnasien zerreißen", sagt Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Auch seine Schule, das Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf, nimmt am Pilotversuch teil. Die Direktorenvereinigung hatte kürzlich gefordert, dass die CSU sich endlich zwischen G 8 und G 9 entscheiden müsse.

Aber die Partei hält sich bedeckt: Fraktionschef Thomas Kreuzer wollte sich nicht äußern, "bevor gesicherte Zahlen vom Kultusministerium" vorlägen. Minister Spaenle wertet den Ansturm als Bestätigung für individuelle Lernzeit. Aber erst, wenn alle 47 Modelle ausgewertet seien, könne in Ruhe eine Lösung erarbeitet werden, die für jedes staatliche Gymnasium machbar sei. "Der Fahrplan liegt auf dem Tisch, im kommenden Schuljahr wird entschieden, rechtzeitig für alle Schulen", sagte Spaenle.

© SZ vom 13.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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