Letztlich war es ein Missverständnis. Als SPD und Grüne 2013 in Niedersachsen über eine Koalition verhandelten, sickerte die Information durch, dass die künftigen Partner das Sitzenbleiben an Schulen für unnötig hielten. Die mediale Diskussion, auch in der SZ, kam schnell und lautstark - dabei hatten sie das in Hannover doch gar nicht so gemeint. Auf Anfrage erklärt heute eine Sprecherin des Kultusministeriums, man habe nie geplant, die schulische Ehrenrunde abzuschaffen. "Wir wollen das Sitzenbleiben durch individuelle Förderung überflüssig machen."
Also falscher Alarm, damals. Doch nun gibt es eine aktuelle Studie aus den Niederlanden, die die Diskussion auch hierzulande wieder anstacheln könnte. Das Centraal Planbureau (CPB) hat berechnet, dass das Sitzenbleiben die niederländischen Steuerzahler jährlich etwa 500 Millionen Euro kostet. Das entspricht demnach etwa drei Prozent der Gesamtausgaben, die jährlich für die Schulen anfallen. Der Staatssekretär für Bildung, Sander Dekker, sagt dazu: "Sitzenbleiben ist eine altmodische, teure und nicht-motivierende Art und Weise, Schüler 'bei der Stange' zu halten."
Kurzum: Sitzenbleiben ist unwirtschaftlich und gehört abgeschafft. Diese vorwiegend ökonomische Argumentation wird auch gestützt von der letzten Studie, die sich in Deutschland mit dem Problem befasst hat. 2009 kam der Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zu dem Ergebnis: "Knapp eine Milliarde Euro geben die deutschen Bundesländer insgesamt jährlich für Klassenwiederholungen aus." Sitzenbleiben sei nicht nur teuer, sondern auch unwirksam.
"Qualitätssicherung durch Wegschicken"
Wie die niederländischen Studienleiter folgerte auch Klemm, dass eine frühzeitige und punktgenaue Förderung schwächerer Schüler das stärkere Werkzeug sei, um Leistungsdefizite auszugleichen. Man solle daher auf das Sitzenbleiben verzichten und die freiwerdenden finanziellen Mittel in Zusatzunterricht und ähnliche Angebote investieren.
Auch fünf Jahre nach seiner Studie zum Thema sieht Klemm bei der Vermeidung unnötiger Klassenwiederholungen die Schulen in der Pflicht. "Es genügt nicht, den Eltern zu sagen: 'Wenn das so weitergeht, bleibt Ihr Kind dieses Jahr sitzen.' Von Seiten der Schule muss direkt überlegt werden, wo die betreffenden Schüler Hilfe benötigen, die sie vom Elternhaus nicht erwarten können", sagt Klemm. Davon auszugehen, dass das Aussortieren schwächerer Schüler dem Klassenverband nutze, findet der Wissenschaftler unsinnig: "Das ist Qualitätssicherung durch Wegschicken."
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Sitzenbleiber - auch weil zum Beispiel Hamburg oder Rheinland-Pfalz das Instrument in manchen Schultypen oder Altersgruppen kaum noch einsetzen - deutlich gesunken. Gingen Schätzungen im Jahr 2012 noch von etwa 250 000 Durchfallern pro Jahr aus, lag der Wert im Schuljahr 2013/14 bei 150 000. Klemm vermutet daher, dass die Kosten für die Ehrenrunden auf etwa 800 Millionen Euro gesunken sind. Das entspräche etwas mehr als 1,3 Prozent der Gesamtausgaben für die Schulen. Diese liegen laut dem Bildungsfinanzbericht 2014 bei 60 Milliarden Euro.
Dass die Durchfallerquoten konstant zurückgehen, hat auch Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), registriert: "Wir haben keine nennenswerten Zahlen mehr." Kraus, selbst seit fast 20 Jahren Leiter eines bayerischen Gymnasiums, sieht daher keinen Grund, das Durchfallen pauschal abzuschaffen: "Das Sitzenbleiben ist eine große Chance für die jungen Leute, die eigene Schullaufbahn zu konsolidieren, Wissensdefizite auszugleichen und zu einem ordentlichen Schulabschluss zu kommen." Das Gros der Sitzenbleiber verpasse das Klassenziel ja nicht knapp, sondern komme mit "vier oder fünf Fünfern daher". "Die weiterzuschieben, ergibt überhaupt keinen Sinn, da sie in der nächsthöheren Jahrgangstufe eine Niederlage nach der anderen erleben."
Außerdem gebe es, so Kraus, nicht nur in Bayern bereits das Instrument des Vorrückens auf Probe. Schüler, die knapp durchfallen, können zudem über eine Nachprüfung am Ende der Sommerferien das Vorrücken in die nächsthöhere Klasse sichern. Immerhin an einer Stelle sind sich Klemm und Kraus aber einig: Es gibt Fälle, in denen eine Wiederholung der Klasse immer sinnvoll sein kann; Krankheit, Probleme in der Familie oder ein Umzug über die Grenzen verschiedener Bundesländer hinweg beispielsweise.
Bleiben die Finanzen. Wenn durch das Abschaffen des Durchfallens tatsächlich ein hoher dreistelliger Millionenbetrag eingespart würde, wäre das im Interesse von Bund und Ländern. "Volkswirtschaftliche Milchmädchenrechnung!", schimpft jedoch Kraus über solche Zahlen. Durch das Sitzenbleiben würden keinesfalls mehr Klassen oder Lehrkräfte notwendig, da sich die wenigen Durchfaller meist problemlos in bestehende Klassen integrieren ließen. Daher stimme die Überlegung von Klemm im Grundsatz nicht. Für städtische Schulen und insbesondere Gymnasien mag diese Argumentation zutreffen. Bei kleineren Schulen im ländlichen Raum dürfte es jedoch Realität sein, dass schon wenige Durchfaller die Etablierung neuer Klassen und damit hohe Kosten notwendig machen.
Aber selbst wenn die Ehrenrunde teuer würde, findet Kraus: "Sitzenbleiben ist eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme, die nicht in erster Linie am Kostenfaktor zu bewerten ist."
Die Diskussion scheint also noch immer zu sein, was sie schon vor Jahren war: ein Streit zwischen Praktikern und Forschern, Lehrern und Wissenschaftlern. In einer idealen Welt, wo Schüler motiviert sind und es keiner äußeren Druckmittel als Ansporn fürs Lernen bedarf, mögen die Gegner des Sitzenbleibens im Recht sein. Schenkt man allerdings den Klagen vieler Lehrer - quer durch alle Schultypen - Gehör, so scheint es, als sei die ideale Welt meist ein theoretisches Konstrukt. Und die Gefahr, eine Klasse wiederholen zu müssen, auch aus Schülerperspektive oft ein vernünftiges Instrument der Pädagogik.