Netflix-Dokumentation:Social Media bedroht die Menschheit - wirklich?

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In einer fiktionalen Parallelerzählung zeigt die Doku den Teenager Ben, der sich nicht von seinem Smartphone losreißen kann. (Foto: AP)

Der Film "Das Dilemma mit den sozialen Medien" beleuchtet Schattenseiten von Facebook und Co. Leider setzt die Doku auf Dampfhammer statt Differenzierung.

Von Simon Hurtz

Der Titel führt in die Irre. "Das Dilemma mit den sozialen Medien" nennt Netflix Jeff Orlowskis Dokumentarfilm. Doch in gut anderthalb Stunden geht es nur wenige Sekunden lang darum, wie Technik das Leben bereichert. Im Fokus stehen Risiken und Nebenwirkungen. Die Doku zeigt kein Dilemma, sie zeichnet eine Dystopie.

Von Tristan Harris über Justin Rosenstein bis Roger McNamee hat Regisseur Jeff Orlovski die gesamte Riege der Silicon-Valley-Aussteiger zusammengetrommelt. Einst waren sie hochrangige Manager bei Google oder Twitter, sie erfanden den Like-Button oder entwickelten Facebooks werbefinanziertes Geschäftsmodell. Dann begannen sie, ihre Arbeit zu hinterfragen. Heute warnen sie eindringlich vor dem angeblichen Monster, das sie erschaffen haben.

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Endloses Scrollen, ständige Push-Nachrichten: Die Technologie, die heute unser Leben bestimmt, wurde im Silicon Valley einst auch von Tristan Harris und Roger McNamee mitgestaltet. Dann stiegen sie aus. Ein Gespräch über Verhaltensmanipulation, Einsamkeit und Facebooks Verantwortung.

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Viele mittelalte weiße Männer blicken freundlich in die Kamera, aber dafür kann Orlovski nichts, schließlich geben in der Tech-Branche nun mal mittelalte weiße Männer den Ton an. Problematischer sind die Aussagen, auf die sie reduziert werden: Social Media macht süchtig, Algorithmen manipulieren die Menschheit. Ob Politik (Autoritarismus, Radikalisierung), Gesellschaft (Polarisierung, Verschwörungsideologien) oder Psychologie (Mobbing, Suchtverhalten), für alles sollen Internet, Handys und soziale Netzwerke verantwortlich sein. Als "größte existenzielle Bedrohung der Menschheit" werden Facebook, Google und Co. mehrfach bezeichnet.

Früher drehte Orlowski Dokumentationen über die Klimakrise. In "Chasing Ice" zeigte er 2012, wie die Erderwärmung Gletscher, in "Chasing Coral" 2017, wie sie Korallenriffe zerstört. Es ist verständlich, dass radikale Tech-Kritiker wie Jaron Lanier aufrütteln wollen. Natürlich muss nicht auf jede Warnung eine Relativierung folgen.

Doch der Dampfhammer schadet dem Anliegen der Doku. Einige Kernaussagen sind verkürzt oder schlicht falsch. Psychologieprofessor Jonathan Haidt referiert über sinkendes Selbstwertgefühl und steigende Suizidraten unter US-Teenagern. Als Erklärung präsentiert der Film Handys und Social Media. Dass immer mehr Familien verschuldet sind, viele Eltern keine Krankenversicherung besitzen und bereits Kinder Angst vor der Zukunft haben, bleibt außen vor.

Menschen werden als willenlose "Laborratten" dargestellt

"Niemand hat sich aufgeregt, als sich Fahrräder verbreiteten", behauptet Harris. Fahrräder seien nur ein Werkzeug, Smartphones seien eine Droge. Er hätte die Suchmaschine seines ehemaligen Arbeitgebers Google zurate ziehen sollen: Vor 100 Jahren warnten Kulturpessimisten, dass Fahrräder dem Charakter schadeten und süchtig machten. Fortschritt ruft Ablehnung hervor: Buchdruck, Elektrizität, Bahnfahren, Zeitungen, Radio und Fernsehen galten einst alle als gefährlich.

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Solche Ungenauigkeiten sind doppelt ärgerlich, weil die Doku gleichzeitig vieles richtig macht. Sie versammelt Menschen, die wichtige und richtige Dinge sagen. Sie beleuchtet Schattenseiten der Aufmerksamkeitsökonomie und trägt dazu bei, den eigenen Umgang mit Social Media zu hinterfragen. Große Konzerne sammeln massenhaft Daten und nutzen die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche aus, damit Nutzer noch länger auf den Bildschirm starren. Dazu zählt übrigens auch Netflix, das die Doku produziert und ausstrahlt.

Statt Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, stellt Orlovski Milliarden Menschen als "Laborratten" dar, die den Manipulationen der Tech-Konzerne willenlos ausgeliefert seien und allmählich zu "Zombies" degenerierten. Das letzte Wort hat Jaron Lanier: "Verlasst das System", sagt er. "Löschen! Werdet das dumme Zeug los." Glaubt man dem Film, gibt es tatsächlich keine andere Möglichkeit. Die Realität ist komplexer.

© SZ vom 15.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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