Anfang Dezember sah es für kurze Zeit ganz gut aus. Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire besuchte das Atomkraftwerk Penly in der Normandie, die Reise lieferte hübsche Bilder: Le Maire Arm in Arm mit dem neuen Chef des französischen Energiekonzerns EDF, Luc Rémont, beide in blau-orangenen EDF-Jacken, im Hintergrund die Steilküste des Atlantik. In der Nacht vor Le Maires Besuch waren drei bisher stillgelegte Reaktoren wieder ans Netz gegangen. Für einen Moment wirkte so, als ginge es für die EDF und ihren sorgengeplagten Atompark langsam wieder aufwärts.
Im Sommer war wochenlang mehr als die Hälfte der 56 französischen Atomreaktoren außer Betrieb gewesen. Im Herbst hatten französische Regierungsmitglieder in Rollkragen und Daunenjacken zum Stromsparen gemahnt und davor gewarnt, dass es im Winter im schlimmsten Fall zu Stromabschaltungen kommen könnte. Die Strompreise gingen durch die Decke, in Deutschland entbrannte eine Debatte über längere Laufzeiten für die verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke - auch wegen der Lage in Frankreich. Dann gingen einige Reaktoren dort wieder ans Netz. In Penly gab sich Wirtschaftsminister Le Maire optimistisch: "Wir sind auf einem guten Weg", sagte er dort. "Lassen Sie uns aufhören, ständig von der Katastrophe zu reden."
Der Optimismus währte nicht lang. Nur wenige Tage nach Le Maires Besuch verkündete die EDF schon wieder schlechte Nachrichten: Im Reaktor Penly 1 gibt es Hinweise auf neue Korrosionsschäden im Abschnitt einer Rohrleitung. Weil der entsprechende Abschnitt ersetzt werden muss, soll der Reaktor statt Ende Januar erst Ende März wieder ans Netz gehen. Die Wiederinbetriebnahme des Reaktors Penly 2 hat die EDF sogar noch weiter verschoben, von Ende Januar auf Mitte Juni. Grund dafür sind "präventive Reparaturen", die die EDF in Reaktion auf die Korrosionsschäden durchführen will.
So geht das nun schon seit Monaten. Ausgerechnet in dem Jahr, in dem Russland die Ukraine angreift und der sibirische Gasfluss abreißt, machen reihenweise auch französische Kernkraftwerke schlapp. Erst waren die niedrigen Pegelstände in vielen Flüssen schuld, denn sie versorgen die Reaktoren mit Kühlwasser. Dann löste sich ein pandemiebedingter Wartungsstau. Und schließlich zeigten sich in einigen Anlagen feine Risse, offenbar ausgelöst durch Korrosion. Man verfolge die Entwicklungen "sehr aufmerksam", heißt es mittlerweile im deutschen Umweltministerium.
Bis 2025 will EDF alle Meiler überprüft haben
Das größte Problem des französischen Kraftwerksparks sind offenbar Schweißnähte. 2021 war es erstmals im Block 1 des Reaktors Civaux im Südwesten Frankreichs aufgetreten - in der Nähe von Schweißnähten war die Stahllegierung korrodiert, eine "interkristalline Spannungskorrosion". Solche Schäden hätten "eine erhebliche sicherheitstechnische Bedeutung", heißt es aus dem Bundesumweltministerium. Mehr noch: Nach Prüfungen in anderen Anlagen seien vergleichbare Schäden gefunden worden. Auch die baugleichen Reaktoren Chooz 1 und 2 sind vom Netz - alle gehören zur Baureihe N4. Es sind die leistungsstärksten Reaktoren Frankreichs. Ob noch andere Baureihen ähnlich betroffen sind, wird sich erst mit der Zeit zeigen. Bis 2025 will EDF alle Meiler überprüft haben.
So warte man im Reaktor Flamanville 1 in der Normandie laut EDF noch auf die Ergebnisse der Prüfung der Schweißnähte - die Wiederinbetriebnahme verschiebe sich deshalb von Ende Dezember auf Mitte Februar. Auch im Block 2 des AKW Civaux kommt es zu Verzögerungen. Wie die EDF mitteilte, soll der Block statt Mitte Januar erst Ende Februar wieder ans Netz gehen. Dort ist die umfassende Inspektion, die die EDF an allen französischen Reaktoren alle zehn Jahre durchführt, noch nicht abgeschlossen.
"Weil der politische Druck so hoch war, waren die Zeitangaben, die die EDF gemacht hat, von Anfang an sehr optimistisch", sagt der Energieexperte Yves Marignac vom Thinktank Négawatt, der sich für den Ausbau erneuerbaren Energien starkmacht. "Da ist es nicht überraschend, dass sich die Wiederinbetriebnahmen jetzt verzögern."
Im September hatten die EDF und die französische Regierung versprochen, dass bis Mitte Februar alle damals stillgelegten Reaktoren wieder ans Netz gehen sollen. Danach sieht es im Moment nicht aus. Noch immer ist etwa ein Viertel der 56 französischen Reaktoren außer Betrieb. Zum Teil wegen Wartungsarbeiten, zum Teil, so wie im westfranzösischen Civaux, weil die Reaktoren wegen Korrosionsschäden oder des Verdachts darauf geprüft und repariert werden müssen.
Von den 61 Gigawatt, die alle französischen Atomkraftwerke bei voller Leistung produzieren können, sind im Moment etwa zwei Drittel verfügbar: 43 Gigawatt. Das ist immerhin mehr als im vergangenen Sommer, da lag der Anteil zeitweise bei weniger als der Hälfte. Das entspannt auch den Blick aus Deutschland auf Frankreich. Noch im September hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) von maximal 45 Gigawatt gesprochen, die im Januar in Frankreich zur Verfügung stünden - und damit auch den möglichen "Streckbetrieb" deutscher Atomkraftwerke bis ins Frühjahr begründet. Inzwischen geht das Wirtschaftsministerium davon aus, dass die 45 Gigawatt sogar übertroffen werden könnten. Die Versorgungssicherheit sei gewährleistet, heißt es aus dem Ministerium, und schiebt nach: "Wir beobachten die Lage genau."
Etwa ein Drittel der französischen Haushalte heizt mit Strom
Dass es noch in diesem Winter zu Stromengpässen kommt, hält die französische Regierung inzwischen für unwahrscheinlich. In der vergangenen Woche erklärte der französische Regierungssprecher Olivier Véran, dass das Risiko für gezielte Stromabschaltungen sinke. Das liegt aber nicht nur daran, dass einige Reaktoren in den vergangenen Wochen wieder ans Netz gegangen sind - sondern auch daran, dass der Stromverbrauch der Französinnen und Franzosen zurückgegangen ist. Etwa ein Drittel der französischen Haushalte heizt mit Strom, bei den milden Temperaturen ist der Bedarf im Moment nicht so hoch.
"Das Risiko für gezielte Abschaltungen ist heute geringer als im Dezember, aber es bleibt", sagt der Energieexperte Yves Marignac. Denn die Planung der EDF verfüge nur über wenig Spielraum. "Wenn nur ein unvorhergesehenes Problem in einem Kraftwerk hinzukommt, kann alles auf einmal wieder anders aussehen."
Was Marignac noch mehr Sorgen bereitet, ist der kommende Winter. Dann werde es noch schwieriger werden als im vergangenen Jahr, die Gasspeicher aufzufüllen, sagt er. Außerdem hat EDF bereits angekündigt, dass im Sommer sechs weitere Atomreaktoren wegen Verdachts auf Korrosionsschäden vom Netz genommen und repariert werden sollen. Ob sie bis zum Winter wieder einsatzbereit sind, ist ungewiss.
Ein Problem, das noch hinzukommt, ist eines, das die französische Atombranche schon lange beschäftigt: In Flamanville in der Normandie verzögert sich abermals die Inbetriebnahme des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR). Eigentlich hätte der Reaktor dieses neuen Typs schon 2012 ans Netz gehen sollen, zuletzt war der Start für 2023 geplant gewesen.
Wie EDF im Dezember mitteilte, soll der EPR nun aber doch erst im Frühjahr 2024 in Betrieb genommen werden. Hauptursache dafür seien zusätzlichen Prüfungen der Schweißnähte. Auch die Kosten des EPR, die sich bisher im Vergleich zu den ursprünglichen Schätzungen schon mehr als verdreifacht hatten, sollen noch einmal um 500 Millionen Euro steigen. Die 1,7 Gigawatt Leistung, die der EPR einmal produzieren soll, werden Frankreich also weder in diesem noch im kommenden Winter zur Verfügung stehen.