Energiekrise:Wieso die Atomenergie in Frankreich zum Sorgenkind wird

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Am Druckwasserreaktor in Flamanville wird seit 2007 gebaut, er sollte 2012 ans Netz gehen, inzwischen wurde der Start auf 2023 verschoben. (Foto: Sarah Meysonnier/Reuters)

Ob russisches Gas fließt, kann den Franzosen fast egal sein. Sie setzen schon lange auf Atomkraft. Nur: Viele Kernreaktoren sind marode, 27 von 56 außer Betrieb. Das könnte bald ernsthafte Konsequenzen für die Verbraucher haben.

Von Kathrin Müller-Lancé, Paris

"Liberté, égalité, sobriété" stand in der vergangenen Woche auf dem Cover des französischen Wochenmagazins L'Obs, also: "Freiheit, Gleichheit, Sparsamkeit". Die Energiekrise ist inzwischen voll in Frankreich angekommen - und das, obwohl das Land verhältnismäßig wenig von russischem Gas abhängt. Als Hauptenergiequelle setzte man in Frankreich bisher zufrieden auf heimische Atomenergie. Viele Haushalte haben elektrische Heizungen, mehr als zwei Drittel des in Frankreich produzierten Stroms stammten im vergangenen Jahr aus Kernkraftwerken. Atomstrom galt lange als günstig und zuverlässig.

Das ist in diesem Herbst anders. Aktuell sind nach Angaben des französischen Stromkonzerns EDF, der alle Kernkraftwerke in Frankreich betreibt, 27 von 56 Reaktoren nicht in Betrieb. Weil der französische Atomstrom auf dem europäischen Markt fehlt, steigen die Strompreise auf dem ganzen Kontinent. Frankreich wiederum muss verstärkt teuren Strom aus dem Ausland einkaufen, um Ausfälle zu verhindern. Es gibt in Frankreich zwar einen Strompreisdeckel für Privathaushalte. Doch Premierministerin Élisabeth Borne kündigte am Mittwoch an, diesen zu lockern. Statt bisher um maximal vier Prozent soll der Preis ab Februar 2023 um bis zu 15 Prozent steigen dürfen. Wenn alle Verantwortung übernähmen und die notwendige Sparsamkeit aufbrächten, werde es keine Abschaltungen geben.

Das klingt schon wesentlich strenger als vor ein paar Monaten. Noch im Juni hatte Macron versichert, es gebe im Winter "überhaupt kein Risiko für Abschaltungen". Wenige Wochen später waren es die Chefs dreier großer französischer Energiekonzerne, die in einem offenen Brief die Bevölkerung dazu aufforderten, ihren Energiekonsum runterzufahren.

"Kollektive Realitätsverdrängung"

"Die französische Energiepolitik ist seit Jahren von einer kollektiven Realitätsverdrängung geprägt", sagt der Atomkraft-Experte Mycle Schneider, der jährlich den World Nuclear Industry Status Report herausgibt. Dabei sind die Gründe für den schlechten Zustand des französischen Atomparks tatsächlich vielfältig. Zum einen ist da das Alter: Etwa ein Drittel der Reaktoren läuft seit mehr als 40 Jahren, ursprünglich waren die ersten Atomkraftwerke in Frankreich nur für eine Laufzeit von 40 Jahren konzipiert worden. Zum anderen sind da Schäden, die nicht nur die ältesten Reaktoren betreffen.

Im vergangenen Jahr wurden bei einer Kontrolle auch an einem der neueren, besonders leistungsstarken Meiler Korrosionen in den Notleitungssystemen entdeckt. Der Klimawandel verschärft die Lage zusätzlich: Weil die Flüsse während der Hitze im Sommer nicht genug Wasser trugen, um die Kühlung zu garantieren, mussten einige Reaktoren ihre Leistung herunterfahren.

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Die Verantwortung für den schlechten Zustand des französischen Atomparks will niemand so recht übernehmen. Man habe nicht genügend ausgebildetes Personal, weil die Politik die Atomindustrie darauf vorbereitet habe, Kraftwerke zu schließen, statt neue zu bauen, schimpfte EDF-Chef Jean-Bernard Lévy vor Kurzem. "Wären die Wartungsarbeiten anständig durchgeführt worden, hätten wir heute diese Diskussion nicht", schoss Macron bei einer Pressekonferenz zurück. Es sei "inakzeptabel", wenn die, die für die Instandhaltung der Meiler zuständig waren, nun die Verantwortung abwälzten.

Das Kernkraftwerk Cattenom in Frankreich. Wenn es nach dem Willen von Paris geht, kann mit Strom aus den Meilern künftig grüner Wasserstoff erzeugt werden. (Foto: imago stock&people/imago stock&people)

Die französische Regierung hat angekündigt, dass alle Reaktoren, die bisher außer Betrieb sind, bis Mitte Februar wieder ans Netz gehen sollen. Nicht alle halten das für sehr wahrscheinlich. "Das ist wie mit einem alten Auto", sagt Analyst Mycle Schneider. "Wenn Sie das zur Werkstatt bringen, weil die Lichtmaschine nicht funktioniert, baut man die Lichtmaschine aus und sieht, dass auch darunter einiges im Argen liegt. Und plötzlich ist das Auto statt einen Nachmittag zwei Wochen in Reparatur." Schon die Inspektion, also das Messen der Schäden, sei sehr kompliziert, zudem sei es oft schwierig, Hersteller für die maßgefertigten Stücke zu finden und diese dann einzuschweißen.

Die Laufzeiten selbst der ältesten Reaktoren wurden inzwischen verlängert

Schon im vergangenen Jahr hat die Regierung beschlossen, die Laufzeiten der ältesten Reaktoren von den ursprünglich geplanten 40 auf 50 Jahre zu verlängern. Die Aufsichtsbehörde gab, wenn auch unter bestimmten Auflagen, grünes Licht. "Je älter die Reaktoren werden, desto höher wird das Risiko für Unfälle", sagt der Kernphysiker Bernard Laponche. Der heute 84-Jährige war in den Sechziger- und Siebzigerjahren am Bau der ersten französischen Atomkraftwerke beteiligt, später wurde er zum Anti-Atom-Aktivisten. Zwar könne man viele Teile eines Reaktors austauschen, sagt Laponche, aber nicht alle. Der Reaktorbehälter zum Beispiel, das Herzstück eines jeden AKWs, in dem die nukleare Kettenreaktion abläuft, lasse sich nicht ersetzen. "Aber auch der Reaktorbehälter verschleißt." Durch das ständige Bestrahlen mit Neutronen werde der Stahl spröde, bei Temperaturunterschieden, zum Beispiel, wenn Notkühlwasser eingeleitet werden müsste, könne er - im allerschlimmsten Fall - springen.

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"Die Priorität der EDF ist die Sicherheit ihrer Reaktoren", teilt der Stromkonzern auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung mit. Alle Wartungsarbeiten würden in enger Abstimmung mit der Aufsichtsbehörde ASN vorgenommen. "Die ASN steht unter hohem politischen Druck", sagt Yves Marignac vom Thinktank Négawatt, der sich für den Ausbau erneuerbarer Energien in Frankreich starkmacht. Schon im Sommer habe die Aufsichtsbehörde beispielsweise die Grenzwerte angepasst, damit einige Atomkraftwerke wärmeres Wasser in die Flüsse leiten dürfen als bisher. Die französische Umweltministerin indes betont, dass die ASN unabhängig von der Politik agiere. Auch die Ankündigung, dass die bisher stillgelegten Meiler im Winter wieder ans Netz gehen sollen, gehe nicht auf eine Ansage der Politik zurück, sondern auf den Zeitplan der EDF, sagte sie kürzlich in einem Fernsehinterview.

Kritik an Frankreichs mächtiger Atombranche zu üben, ist auch heute nicht selbstverständlich. Die Atomkraft ist noch immer eine Schlüsselindustrie des Landes. Die EDF ist einer der größten Stromproduzenten der Welt. "Wir haben den Eiffelturm, den Notre-Dame und die Atomkraft", sagt der Physiker Bernard Laponche. Tatsächlich konnte Frankreich durch seine Atomkraftwerke viele Jahre nicht nur ziemlich günstig, sondern auch ziemlich emissionsarm Energie produzieren. Nach Angaben des französischen Umweltministeriums entstanden 2018 bei der Produktion einer Kilowattstunde Strom in Frankreich durchschnittlich etwa 50 Gramm CO₂, in Deutschland etwa 400 Gramm. Der EU-Durchschnitt lag bei etwa 300 Gramm pro Kilowattstunde.

Die meisten der französischen Regierungen, linke und rechte, haben in der Vergangenheit an der Kernkraft festgehalten. François Hollande setzte sich nach Fukushima dafür ein, den Anteil der Atomkraft im französischen Strommix bis 2025 auf 50 Prozent zu reduzieren. Auch Emmanuel Macron hatte zu Beginn seiner Amtszeit noch angekündigt, bis 2030 14 Atomkraftwerke schließen zu wollen. Inzwischen hat er eine Kehrtwende vollzogen. "Unsere wirtschaftliche und energetische Zukunft hängt von der Atomkraft ab", sagte Macron in einer Rede vor zwei Jahren. 14 neue Reaktoren bis 2050 sind jetzt sein Ziel.

In Flamanville in der Normandie wird indes noch immer an einem Druckwasserreaktor der neuen Generation gebaut - seit 2007. Der Reaktor sollte eigentlich schon 2012 ans Netz gehen, inzwischen wurde der Start auf 2023 verschoben. Die Kosten haben sich mehr als verdreifacht. "Die Industrie schafft es noch nicht einmal, dieses eine neue Atomkraftwerk fertig zu bauen", sagt der Atomkraft-Experte Mycle Schneider. "Aber die Politik verspricht neue."

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