Freihandel:Europa will weniger arrogant sein

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Gegen das Abkommen gab es Proteste. (Foto: IMAGO/Bert Van Den Broucke/IMAGO/Photo News)

Das Mercosur-Freihandelsabkommen ist derzeit eher tot als lebendig. Die EU sucht nach anderen Wegen, Lateinamerika an sich zu binden - nachhaltig und auf Augenhöhe.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Ralph Gonsalves, Präsident des Inselstaates St. Vincent und die Grenadinen, hat in Brüssel bleibenden Eindruck hinterlassen. Als Vorsitzender der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (Celac) führte er am Montag und Dienstag die Gipfelgespräche mit den Vertretern der Europäischen Union. Gonsalves ist ein überaus freundlicher Mann, der allerdings mit der Forderung überraschte, in die Abschlusserklärung des Treffens müssten auch der europäische Genozid an den lateinamerikanischen Ureinwohnern und die Ausbeutung von aus Afrika herbeigeschafften Sklaven aufgenommen werden.

Bei Bundeskanzler Olaf Scholz traf Ralph Gonsalves auf grundsätzliche Sympathie. Zum einen ist Gonsalves ein Sozialdemokrat wie Scholz. Zum anderen hat Scholz sich schon als Jungsozialist mit dem Thema Kolonialismus beschäftigt, und es ist bekannt, dass ihn zuletzt das Buch "Afrika und die Entstehung der modernen Welt" von Howard French faszinierte. Das Werk handelt auch davon, wie sehr der Reichtum der westlichen Welt auf der Ausbeutung von afrikanischen Sklaven beruht. Es hatte also seinen Grund, warum Scholz zu Beginn des Lateinamerika-Gipfels mit rund 50 Staats- und Regierungschefs in Brüssel sagte: Europa müsse in den Beziehungen zu anderen Teilen der Welt immer seine koloniale Vergangenheit im Blick haben.

Olaf Scholz stand mit dieser Haltung nicht allein. Es war viel von Respekt, Sensibilität, Demut, von Gesprächen auf Augenhöhe die Rede. Europa braucht Hilfe in seiner Auseinandersetzung mit Russland und China und merkt nun, dass man potenzielle Verbündete vergrault hat. Die Länder in Lateinamerika und der Karibik solidarisieren sich nicht bedingungslos mit Europa, wenn es um Putins Angriff auf die Ukraine geht, sondern verfolgen eigene Interessen. Und sie beugen sich auch in Fragen wirtschaftlicher Zusammenarbeit nicht so einfach europäischen Wünschen, zumal stets China als Ersatzpartner bereitsteht. "Ein Weckruf" sei das, sagte der niederländische Regierungschef Mark Rutte in Brüssel. Europa sei in der Vergangenheit "ziemlich arrogant" gewesen. Das müsse sich ändern.

Der Gipfel, der erste seiner Art nach acht Jahren Unterbrechung, war mit großen Erwartungen geplant worden. Die Europäische Union ist größter Direktinvestor in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik sowie der drittgrößte Handelspartner nach den USA und China. Idealerweise hätte man in Brüssel einen Durchbruch im jahrelangen Ringen um das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay gefeiert. Doch trotz gegenteiliger Gipfelrhetorik - Einigung möglichst bis Ende 2023 - scheint das Projekt der größten Freihandelszone der Welt mit mehr als 700 Millionen Menschen derzeit mehr tot als lebendig zu sein. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen tut ihr Bestes, aber am Rande des Gipfels war zu hören: Es gebe keine wirklichen Fortschritte.

Der Vertrag war 2019 nach zwanzigjährigen Verhandlungen abgeschlossen worden, ist aber seither blockiert, weil mehrere EU-Länder Nachforderungen anmeldeten. In einer Zusatzvereinbarung sollen strengere Regeln für den Schutz des Regenwaldes und gleiche ökologische Auflagen für die Landwirtschaft auf den beiden Kontinenten formuliert werden. Brasiliens Präsident Lula, auf dem seit seiner Amtsübernahme im Januar große Hoffnungen auf eine Einigung ruhen, ließ in Brüssel anklingen, sein Land tue bereits genug zum Schutz des Regenwaldes und Lateinamerika wolle sich nicht bevormunden lassen. Aber selbst wenn er Kompromisse anbieten sollte, ist schwer vorstellbar, wie das Abkommen in Europa durchzusetzen wäre, vor allem angesichts der Verunsicherung in der Landwirtschaft.

Die EU und ihre Gäste haben bei dem Gipfel versucht, auch zukunftsweisende Nachrichten zu verbreiten

Die Stimmung in Frankreich ist ohnehin explosiv, man kann sich vorstellen, was passiert, wenn Präsident Emmanuel Macron seinen Landwirten billiges Fleisch aus Südamerika als Konkurrenz zumuten würde. Der österreichische Kanzler Karl Nehammer erklärte in Brüssel, seine Regierung fühle sich einem Beschluss des Parlaments verpflichtet, das den Vertrag abgelehnt hat. Auch Mark Rutte ließ Skepsis erkennen, ob das niederländische Parlament zustimmen würde. In Deutschland müsste sich Olaf Scholz vor allem mit den grünen Koalitionspartnern auseinandersetzen, die auf einen angemessenen Schutz des Regenwaldes pochen.

Das Amazonas-Gebiet in Brasilien: Die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (Celac) führt derzeit Gespräche mit der EU. (Foto: imago stock&people/imago/Westend61)

Die EU und ihre Gäste haben bei dem Gipfel versucht, auch zukunftsweisende Nachrichten zu verbreiten. Dazu zählt das Rahmenabkommen zwischen der EU und Chile zum Abbau kritischer Rohstoffe, das am Dienstag unterzeichnet wurde. Diese Form der Zusammenarbeit soll modernen Ansprüchen der Nachhaltigkeit genügen: klimafreundlich und zum Nutzen beider Seiten. Den Rahmen dazu setzt das EU-Investitionsprogramm "Global Gateway", aus dem bis zum Jahr 2027 insgesamt 45 Milliarden Euro nach Lateinamerika fließen können. Die EU gibt damit eine Antwort auf Chinas Projekt der "Neuen Seidenstraße", das nach europäischer Lesart eine Form des Neokolonialismus darstellt.

"Global Gateway" ist ein Lieblingsprojekt der Kommissionspräsidentin, entsprechend begeistert malte Ursula von der Leyen den Gästen aus Lateinamerika die gemeinsame Zukunft aus. Die europäischen Investitionen sollen - anders als chinesische - auch lokale Wertschöpfungsketten und Arbeitsplätze schaffen, ob bei der Gewinnung kritischer Rohstoffe wie Lithium, das zum Bau von Batterien gebraucht wird, oder bei der Herstellung von grünem Wasserstoff. Der "Mehrwert" solle in Lateinamerika bleiben.

Diese neue Form der Handelspolitik rühmte auch Olaf Scholz als persönlichen Erfolg. Er plädiere seit langem dafür, sagte er. Der Kanzler reklamierte es auch als sein Verdienst, dass der Gipfel am frühen Dienstagabend nach zähem Ringen doch mit einer gemeinsamen Abschlusserklärung zu Ende ging. Streitpunkt war nicht die Forderung von Ralph Gonsalves, die koloniale Vergangenheit Europas zu thematisieren. Darüber herrschte Einverständnis. Vielmehr weigerten sich Kuba, Nicaragua und Venezuela, den russischen Angriff auf die Ukraine auch nur zu erwähnen. Die Staaten gelten als Verbündete Russlands. "Von tiefer Besorgnis" über den Krieg ist nun die Rede, unter Verweis auf unterschiedliche Standpunkte, wie sie bei Abstimmungen bei den UN zum Ausdruck kamen.

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