Der Chef des weltweit größten Chemieunternehmens beginnt mit einer Warnung, die kaum deutlicher ausfallen könnte. Europas Grundstoffindustrie kämpfe mit historischen Herausforderungen, sagt BASF-Konzernlenker Martin Brudermüller: "Die Nachfrage ist rückläufig, die Investitionen auf dem Kontinent stagnieren, die Produktion ist deutlich zurückgegangen, und Standorte sind bedroht." Deshalb brauche Europa jetzt, an der Schwelle zu einer neuen Brüsseler Legislaturperiode, einen "industriellen Deal" als Kern seiner strategischen Agenda, ein Programm, um die Klimawende zu schaffen und zugleich seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.
Der 62-jährige Brudermüller ist zugleich Präsident des europäischen Chemieverbands Cefic und war am Dienstag Gastgeber eines besonderen Industrietreffens. Im BASF-Werk im belgischen Antwerpen kamen Dutzende Vertreter der energieintensiven Industrien zusammen, um die "Antwerpener Erklärung" zu verabschieden, eine zehn Punkte lange Wunschliste an die europäische Politik. 73 Unterschriften, ein gemeinsames Ziel: "Wir müssen die Industrie in Europa halten, denn sie wird die Klimalösungen liefern, die Europa braucht."
Zu den Unterzeichnern gehören neben Brudermüller und anderen Chemie-Chefs die Vorstandsvorsitzenden von Industrieunternehmen aus ganz Europa, von Zement- und Stahlfirmen, von Papierherstellern und Ölkonzernen. Die belgische EU-Ratspräsidentschaft unterstützt die Deklaration; gleich im ersten Absatz wird Belgiens Premier Alexander De Croo zitiert. Und der Zeitpunkt des Treffens ist kein Zufall: Erst am Montag hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kundgetan, dass sie für eine zweite Amtszeit kandidieren werde. Am Dienstag reiste sie nach Antwerpen - ein klares politisches Signal an die Unterzeichner der Initiative.
Keine neuen Forderungen, aber viel Wucht
Was sie fordern, ist nicht unbedingt neu, hat aber mit der Unterschrift so vieler Konzernchefs eine andere Wucht. Nach ihrer Vorstellung soll der Industrie-Deal im Mittelpunkt des Arbeitsprogramms der neuen EU-Kommission stehen, am liebsten mit einer eigenen Zuständigkeit direkt unterhalb der Präsidentin. Das wäre deckungsgleich mit dem Grünen Deal, dem EU-Klimaschutz-Programm der vergangenen Jahre, das ein eigens dafür zuständiger Kommissions-Vizepräsident verantwortet.
Geht es nach der Industrie, sollte der neue Kommissar zuerst eine Art Deregulierungsprogramm umsetzen. Ein Aktionsplan für die Industrie müsse beinhalten, bestehende Regulierungen weniger widersprüchlich und komplex zu machen und Berichtspflichten abzuschaffen, heißt es in der Erklärung. Europa müsse außerdem ein "global wettbewerbsfähiger Energielieferant" werden: "Wir brauchen eine echte EU-Energiestrategie mit konkreten Maßnahmen, die grenzüberschreitende Elektrizität, den Ausbau der Wasserstoffnetze (...) und Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern ermöglichen."
Ein Herzstück der Deklaration ist die Forderung nach einer stärkeren grünen Industriepolitik. Ein EU-Fonds für saubere Technologien solle her und zugleich ein vereinfachter Rahmen für staatliche Beihilfen. Dabei verlangt die Industrie staatliche Förderung über die Investitionskosten hinaus. Nach dem Vorbild des amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) der Regierung von US-Präsident Joe Biden sollten auch die operativen Kosten subventioniert werden können. Das würde etwa bedeuten, nicht nur der Bau einer Anlage zur Wasserstoffherstellung zu fördern, sondern auch die Herstellung selbst.
Die Forderungen treffen in Brüssel auf fruchtbaren Boden. Unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen, konfrontiert mit protestierenden Bauern und mahnenden Unternehmensvertretern hat die Kommission ihre Kommunikation zuletzt deutlich verändert. Im zuletzt vorgelegten Kommuniqué zu den Klimazielen für das Jahr 2040 etwa heißt es: Damit der Grüne Deal ein Erfolg werden könne, müsse er "durch eine entschlossene und erneuerte europäische Agenda für nachhaltige Industrie und Wettbewerbsfähigkeit ergänzt werden." In ihrer Rede zur Lage der EU hatte Ursula von der Leyen schon im September von der "nächsten Phase" des Grünen Deals gesprochen.
Experten sind ob der Industrie-Wunschliste zunächst skeptisch. "Grüne Industriepolitik würde eine echte europäische Finanzierung voraussetzen", sagt der Ökonom Nils Redeker, Vizedirektor des Berliner Thinktanks Delors Centre. "Da müsste Ursula von der Leyen viel politisches Kapital hineingeben." Denn auf neue EU-Fördertöpfe haben viele Mitgliedstaaten keine Lust. Die große Frage sei, ob die Kommissionschefin es schaffe, ein Gesamtpaket zu schnüren, das den Grünen Deal weiterentwickle - "oder ob das Pendel jetzt zurückschwingt."