Daniel Goeudevert:"Die Chinesen denken dreimal schneller als wir"

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Zeitreise mit einem Querdenker: Der ehemalige VW-Vorstand Daniel Goeudevert über Toyotas Imageschaden und richtige Ideen im falschen Moment.

M. Ahlemeier

Daniel Goeudevert, 1942 in Reims geboren, war fast vier Jahre lang Volkswagen-Vorstand, zuletzt als Stellvertreter des Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch. Doch das Duo harmonierte nicht - im Juli 1993 verließ der Franzose das Unternehmen. Vor seiner Karriere als Automanager studierte Goeudevert Literatur und arbeitete zunächst als Lehrer. Rasch wechselte er ins Autofach, verdiente sein Geld als Autoverkäufer und machte eine steile Karriere bei Citroën und Renault in Deutschland. 1981 wurde er Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford-Werke, 1989 wechselte er zu VW. Seine Autobiographie "Wie ein Vogel im Aquarium" stand lange auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschien "Das Seerosen-Prinzip. Wie uns die Gier ruiniert". Goeudevert lebt in der Nähe von Genf.

sueddeutsche.de: Herr Goeudevert, kommen Sie mit auf eine Zeitreise? Wir drehen das Rad der Geschichte 20 Jahre zurück, aber die Menschen verfügen über das Wissen von heute. Was machen Sie?

Goeudevert: Die Frage ist für mich seltsam. Wir hatten das Wissen von heute schon 1990. Hätten wir die ersten Symptome richtig erkannt, gäbe es die Probleme in den Bereichen Auto, Automobilmarkt und Wirtschaft nicht.

sueddeutsche.de: Vor fast genau 20 Jahren erschien das von Ihnen in Auftrag gegebene Buch "Ausfahrt Zukunft". Sie waren damals Chef von Ford-Deutschland, und der Autor - ihr Freund Frederic Vester - kannte die großen Mobilitätsprobleme, die heute eine Rolle spielen.

Goeudevert: Ich habe das Buch vor kurzem wieder einmal durchgeblättert. Damals war ich ein Querdenker - aber Querdenker schätzt und liebt man erst 20 Jahre nach ihrem Tod.

sueddeutsche.de: Obwohl die Notwendigkeit neuer Antriebstechnologien bekannt ist, hängt die Autoindustrie immer noch am Öl. Warum?

Goeudevert: Wir kennen die Erdölknappheit seit 30 Jahren. Leider gibt es auch in der Wissenschaft Menschen, die sich von Firmen bezahlen lassen. Deshalb haben wir seit eh und je Forscher, die sagen: Es wird immer Öl geben - auch in 200 Jahren.

sueddeutsche.de: Auf den jüngsten Automessen in Detroit und Genf wurden abermals mehrheitlich Fahrzeuge mit traditionellen Verbrennungsmotoren und weniger Autos der Zukunft gezeigt.

Goeudevert: Und die Mädchen sind genauso kurz angezogen wie früher - sie sollen die Autos attraktiv machen. Das Klischee Auto hat sich nicht geändert. Doch die amerikanische Autoindustrie ist am Ende. General Motors ist so gut wie dahin, Ford hat die Kurve besser gekriegt, und Chrysler ist seit Jahren klinisch tot.

sueddeutsche.de: Sehen Sie da nicht zu schwarz? GM ist gut durch das Insolvenzverfahren gekommen und Chrysler gehört jetzt zu Fiat.

Goeudevert: Reden wir in einem Jahr wieder! Bei Fiat und Chrysler sehe ich kein attraktives Produkt kommen, bei GM sehe ich noch weniger. Die müssten eine immense Mentalitätsänderung durchziehen - das geht nicht in zwölf Monaten. GM wird sich nicht erholen, da ist zu viel falsch gemacht worden. Das einzig Gute an GM war Opel - aber Opel alleine ist zu klein, um zu überleben.

sueddeutsche.de: In Genf gab es aufgemotzte Autos, denen man nicht ansah, dass sie Elektroautos sind. Ist das E-Auto keine echte Alternative für die Zukunft?

Goeudevert: Ich weiß, wie die Branche tickt. Man zeigt, dass ein super schnittiges und sportliches Auto in Zukunft auch elektroangetrieben sein kann. Aber das ist ein Denkfehler. Das Elektroauto wird nicht für große Distanzen genutzt, es wird in großen Ballungsräumen und auf kleineren Distanzen bis 100 Kilometer bewegt. Dieses Auto muss keine 200 Stundenkilometer schnell sein und nicht an der Ampel in 0,5 Sekunden auf 100 kommen.

sueddeutsche.de: Muss ein E-Auto überhaupt 100 Stundenkilometer fahren können?

Goeudevert: Die Autoindustrie bleibt fest eingesponnen in den Klischees der fünfziger Jahre. Die größte Herausforderung der Zukunft wird sein, wie wir mit dem Phänomen Zeit umgehen werden. Man will die Zeit verkürzen, aber das geht nicht. Darüber mache ich mir gerade Gedanken, weil ich ein Buch schreiben möchte.

sueddeutsche.de: Sie haben Literaturwissenschaften studiert und sind nach kurzer Tätigkeit als Lehrer relativ schnell zum Automanager aufgestiegen. Was kann ein Autoverkäufer von der schöngeistigen Literatur lernen?

Goeudevert: Die Literaturwissenschaft hat einen Vorteil: Man ist permanent mit den Gedanken von anderen beschäftigt und nicht mit seinen eigenen. Dieses Grundverhalten bleibt unverändert, auch wenn man Industrie-Chef ist. Ich bin nicht intelligenter als andere, aber ich habe zugehört. Ich habe mit Kunden geredet, ich war immer nahe an der Händlerschaft. Von dieser Seite habe ich viel mehr mitgenommen als vom eigenen Design oder der Fertigung.

sueddeutsche.de: Sie galten als Paradiesvogel!

Goeudevert: Ja, ich habe mich anders verhalten - und versucht, den Puls der Gesellschaft richtig zu verstehen. Deshalb habe ich mich zum Ärger vieler Kollegen im Club of Rome oder an der Universität Witten-Herdecke engagiert. Ich wollte etwas anderes sehen als meine eigene Fabrik. Der Kunde muss am Ende mit dem Produkt ohne schlechtes Gewissen gut leben können, deshalb muss ich beim Kunden anfangen und zurück zur Entwicklung denken. Die IT-Industrie wiederholt heute die Fehler der Autoindustrie von damals.

sueddeutsche.de: Haben Sie ein Beispiel für Ihre Kritik?

Goeudevert: Nehmen Sie nur das Handy: Das ist ein Monstrum geworden und nur gelegentlich zum Telefonieren da. Es hat alles, bis auf Dusche und Klosett. Die IT-Industrie verabschiedet sich von ihren grundsätzlichen Funktionen. Das ist das Phänomen des Autos: In den neunziger Jahren war es ein rollender Schreibtisch.

sueddeutsche.de: Warum genau steckt das Auto in der Krise?

Goeudevert: Es erfüllt heute nur bedingt die Funktionen Transport und Mobilität, dafür aber hundertprozentig die Funktion Selbstdarstellung/Status.

sueddeutsche.de: Welches Auto fahren Sie?

Goeudevert: Ich habe einen Audi Q5.

sueddeutsche.de: Auch kein kleines Auto.

Goeudevert: Aber kein Riesending. Wen kann ich überzeugen, wenn ich einen Tata fahre? Das bringt nichts. Ich bin nicht gegen große Autos. Ich bin gegen das Argument, dass die ganze Entwicklung zum großen Auto tendieren muss. Das ist der Punkt.

sueddeutsche.de: Wer baut künftig die umweltschonenden, spritsparenden Autos für die aufstrebenden Märkte Indien und China? Die deutschen Hersteller?

Goeudevert: Die brauchen die Deutschen nicht. China zählt heute 100 Hersteller, zehn davon sind mittlerweile weltbekannt. Daimler und VW arbeiten bereits mit einem chinesischen Hersteller intensiv an der Entwicklung von Elektroautos, mit der Firma BYD - Build Your Dreams. Die haben den Mut, sich so zu bezeichnen. Build Your Dreams - ist das nicht schön?

sueddeutsche.de: Die deutschen Autohersteller hängen mehr an knallharter Ingenieurskunst als an Träumerei.

Goeudevert: Ich erinnere mich an die achtziger Jahre. Damals haben sich die großen Automedien über die Japaner lustig gemacht, weil die Autos unsere Crashtests nicht überstanden haben, die Qualität nicht stimmte und das Vertriebsnetz fehlte. Heute wiederholen wir diese Arroganz gegenüber den Chinesen - doch sie arbeiten wahnsinnig schnell und denken dreimal schneller als wir.

sueddeutsche.de: Was ist mit dem Boommarkt Indien? Tata bietet seine selbstentwickelte Autotechnologie bereits für 2500 Dollar je Fahrzeug an.

Goeudevert: Da bekommt die ganze Autowelt traditioneller Führung natürlich einen Lachkrampf, aber das ist die Zukunft. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Tata-Führung den ehemaligen GM-Europachef Carl-Peter Forster geholt hat.

sueddeutsche.de: Der Markt ist stark im Umbruch, VW beispielsweise paktiert seit kurzem mit Suzuki. Eine geniale Taktik der Wolfsburger?

Goeudevert: Ein schöner Schachzug. VW schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Konzern spart sich die Entwicklung ganz kleiner Autos - da ist Suzuki besser und weiter. Und Suzuki ist in Märkten etabliert, wo VW noch nicht ist, zum Beispiel Indien.

sueddeutsche.de: Haben Sie Ihrem ehemaligen Rivalen Ferdinand Piëch zum klugen Schachzug gratuliert?

Goeudevert: Man gratuliert sich nicht, das braucht Piëch nicht. Er hat vieles gut gemacht, das muss ich neidlos anerkennen. Vor allem, was seine Gesamtstrategie angeht. VW ist jetzt ein Unternehmen, das in den nächsten vier, fünf Jahren wahrscheinlich zum größten und profitabelsten Automobilhersteller der Welt aufsteigen wird. Davon bin ich überzeugt.

sueddeutsche.de: Sagen Sie jetzt nur Positives über Ihren ehemaligen Arbeitgeber, weil Sie nach Ihrem Rückzug aus dem VW-Vorstand einen mit acht Millionen Mark dotierten Beratervertrag unterschrieben haben?

Goeudevert: Wie bitte? Ich habe keinen Beratervertrag. Ich bin zu einer Zeit gegangen, als es nicht einmal Abfindungen gab. Die Trennung war einvernehmlich - ohne großen Eklat und innerhalb von drei Tagen. Mein Vorstandsvertrag wurde aufgehoben. Ich hatte zwei Jahre hinter und noch drei Jahre vor mir. Bis zum Vertragsende habe ich mein Grundgehalt behalten. Ich bin weder stolz, noch fühle ich mich dumm. Die acht Millionen sind ein Märchen.

sueddeutsche.de: Woran sind Sie letzten Endes als Automanager gescheitert?

Goeudevert: Ich weiß nicht, ob ich gescheitert bin. Ich bin 1980 bei Ford eingestiegen und dort fast zehn Jahre auf einem Vorstandsstuhl geblieben, da kann man nicht von Versagen sprechen. Vor mir wurden vier Vorstände innerhalb von drei Jahren verbraucht, das war der Schleudersitz der deutschen Industrie. Danach bin ich als Franzose Chef von VW geworden - das war toll. Am Ende kam natürlich die Entscheidung, wer VW führen sollte - Piëch oder ich. Piëch hat es geschafft, ich war Stellvertreter.

Unsere Ansichten über die VW-Zukunft waren sehr unterschiedlich. Eine Trennung zum Wohl des Unternehmens war daher die einzige Lösung. Ich habe nie an Stühlen geklebt. Auch bei VW habe ich einiges bewirkt, wenn auch weniger als bei Ford. Ferdinand Piëch war eindeutig der geeignetere Mann.

sueddeutsche.de: Sie wären nicht bei MAN und Scania eingestiegen?

Goeudevert: Doch, diese Strategie hätte ich auch gewählt. Ich wollte sogar mit Porsche zusammenarbeiten. Meine Idee war: Um langfristig auf großen Füßen zu stehen, brauchte VW eine deutlich größere Lkw-Sparte. Ich hatte auf Mercedes geguckt. Ich hätte das nicht so wie Piëch gemacht, auch nicht so gut. Es ist keine Schande zu sagen, dass er das besser gemacht hat. Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben, um zu einem toll gemachten Auto zu gratulieren. Piëch hat die Firma auf dieses Niveau gebracht. Selbst die größten Widersacher müssen seine Leistung anerkennen.

sueddeutsche.de: Haben Sie mit Ihrer Ökoauto-Denke einfach nicht in die neunziger Jahre gepasst?

Goeudevert: Ich hätte vielleicht mehr die Alternativ- und Elektroantriebe forciert. 1992 wollte ich bei der Internationalen Automobil-Ausstellung schon ein Hybridsystem vorstellen. Aber wenn ich das damals getan hätte, wäre das ein Flop geworden. Es reicht nicht, nur gute Gedanken zu haben. Man muss damit auch zur richtigen Zeit auf den Markt kommen.

sueddeutsche.de: Toyota kam mit dem Hybrid-Modell Prius zur richtigen Zeit, hat nun aber Ärger mit anderen Modellen - weil das Gaspedal klemmt. Mehr als acht Millionen Fahrzeuge wurden zurückgerufen. Wird sich der weltgrößte Hersteller von diesem Desaster je wieder erholen?

Goeudevert: Schwierige Frage. Es wird Toyota Abermilliarden kosten, um das Vertrauen der Weltkundschaft wiederzugewinnen. Toyota ist ein sehr reiches Unternehmen, aber das wird sehr belastend. Toyota wird nicht kaputtgehen, aber seinen ersten Platz in den nächsten zwei, drei Jahren verlieren. Dafür sehe ich VW kommen.

sueddeutsche.de: Wie sinnvoll war die Toyota-Verschleierungstaktik?

Goeudevert: Meine Devise lautet: Lieber früh und direkt mit Chirurgie arbeiten, als prophylaktisch versuchen, zu vertuschen. Toyota hat dieses Malheur nicht verdient, das ist schon tragisch.

sueddeutsche.de: Ihnen war der ganzheitliche Ansatz und damit die ökohumane Wirtschaft immer wichtiger als der zahlenlastige Jahresabschlussbericht. Hatten Sie sich mit der Automobilwirtschaft einfach die falsche Industrie ausgesucht?

Goeudevert: Ich hatte ein Problem mit der Industrie, das ist richtig. Ich vergleiche das manchmal mit Boris Becker: Wenn der in Wimbledon nur auf die Ergebnistafel gestarrt hätte, hätte er nie ein Match gewonnen.

sueddeutsche.de: Sie selbst halten es mit Alfred Herrhausen: "Man muss das, was man denkt, auch sagen, das, was man sagt, auch tun und das, was man tut, auch sein." Für einen Mananger nicht gerade diplomatisch!

Goeudevert: Der Leitspruch ist undiplomatisch, ja. Herrhausen war ein Querdenker von Bankier, der sich über die Gesellschaft Gedanken gemacht hat. Wenn ich ein Auto baue, ist das auch mehr als eine Tonne Blech auf der Straße.

sueddeutsche.de: In welcher Branche hätten Sie sich wohler gefühlt?

Goeudevert: Nirgendwo. Die Autobranche ist schon außergewöhnlich. Es ist eine Branche, wo man so viel tun könnte, und die gleichzeitig furchtbar konservativ ist. Sie schafft es nur schwer, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Diese Industrie versteht nicht, dass sie nicht irgendeine Industrie ist. Sie hat eine enorm Signalwirkung und schafft eine tiefe, innere Verbindung zwischen den Wünschen und Träumen der Bevölkerung. Gleichzeitig leistet die Autobranche einen enormen Beitrag zur Volkswirtschaft. Das Produkt geht tief in die individuelle Psychologie der Menschen.

sueddeutsche.de: Statt Zeitreise in die Vergangenheit ein Ausblick in die Zukunft: Wo steht die Automobilindustrie in 20 Jahren?

Goeudevert: Es werden neue Konzepte und Antriebssysteme kommen, neue Hersteller werden uns wachrütteln. Asien bringt neue Produkte auf den Weltmarkt. Die Deutschen kriegen die Kurve und entwickeln Technologien, die sie an die Welt verkaufen. Wir erleben die Motorisierung von Afrika. Und viele Innovationen werden die richtige Richtung einschlagen. Kurzum: Das alles wird uns an den Anfang der Automobilindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern.

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